Ein Vorwort fehlt. Es geht direkt in medias res zum Jahr 1915. Doch weiß man bald, dass man mit diesem Buch von Bernd und Christine Lampe eine reife Frucht der lebenslangen Beschäftigung mit Rudolf Steiners mantrischen Dichtungen vor sich hat.
Freilich sind diese Dichtungen nicht jedermanns Sache. Wer möchte nicht das Netz der Erkenntnis weit in die Welt hinauswerfen? Und wie viel von der Welt gilt es angesichts des Zustands von Erde und Natur, Menschen, Kulturen und den Gegenwartskrisen, Arbeitsfeldern und Lebensfragen nicht dringend zu verstehen und zu bearbeiten? Dem gegenüber mutet diese rätselhafte Dichtung Rudolf Steiners fast wie ein karges Angebot an: zwölf Strophen mit je sieben Zeilen. Ein Mikrokosmos auf Papier. Zudem in einer eigenen, verschlossenen Sprache, die durch langes Meditieren entschlüsselt sein will. Wenn man aber, wie Bernd und Christine Lampe, die Geduld aufbringt, den Berg zu ersteigen, hat man freie Aussicht in eine unermessliche geistige Weite. Diese zeigt sich zunächst in einer ‹historischen Skizze› auf das Kriegsjahr 1915, in dem Rudolf Steiner auch sein letztes Testament formulierte. Die Autorin und der Autor fragen sich angesichts dieser Tatsache: «Sind die ‹Zwölf Stimmungen› […] ein ‹esoterisches Testament›? Rechnete Rudolf Steiner mit seinem Tod, als er einen Text veröffentlichte, der nach Stil und Wortwahl einmalig in seinem Werk ist? Dachte er daran, dass die weltgeschichtliche Situation 1915 für ihn jede Form einer weiteren Wirksamkeit beenden könnte?» Eine Art nachgelassener Schlüssel ist die Dichtung schon, falls die Tür des Esoterischen, die damals zuging, nicht mehr geöffnet hätte werden können. Es ist anders gekommen, und die Dichtung wurde relativ wenig beachtet.1 Bernd und Christine Lampe haben eine Fülle von Einsichten zusammengetragen, damit uns diese Dichtung gerade als Wortkunstwerk nahekommen kann. Allerdings muss man dabei hinnehmen, dass der Stil dadurch lapidar, nur das Wesentliche enthaltend, eben saturnhaft ist.
Poetische Baukunst
Jedoch gibt das Buch nicht etwa eine Sammlung von Parallelitäten. Es dringt in die Mantren ein, wie in den Tierkreis, die Sonnenbahn, die Planeten- und Tierkreisgesten, die zwölf Weltanschauungsnuancen und den Seelenkalender. Vor allem aber in den Aufbau, die Rhythmen und den Wortsinn der zwölf mantrischen Strophen. Bernd und Christine Lampe kommen durch das Zahlenwesen an das Musikalische der Dichtung heran und über die zwölf einzelnen Strophen hinaus. So finden sie eine ‹pythagoräische› Gliederung von 5 + 4 + 3 = 12 (nach dem Satz 3² + 4² = 5²). In Sternzeichen gesprochen: von Widder bis Löwe, von der Jungfrau bis zum Schützen und vom Steinbock bis zu den Fischen. Jede der sieben Zeilen einer Strophe ist einem Planeten (inklusive Sonne und Mond) zugeordnet. Den Zusammenhang von 5, 4 und 3 findet man dann in Feinheiten und dringt wirklich mit der Zahl ins Innere der Dichtung hinein. Gleichfalls herrscht eine Ordnung durch die Metrik. Sie ist ‹exakt›. Der erste Versfuß der ersten fünf Sonnenzeilen ist ein Päon (v – vv), die zweiten vier ein Amphibrachus (v – v) und die letzten drei sind immer anders. Die allerletzte Mondeszeile hat als einzige den Spondeus als Rhythmus ( – – ), und zwar am Ende, wo die Dichtung mit einem Innenreim auf dreimal ‹I› schließt: «Der Verlust sei Gewinn in sich.» Es sei dies nur als Beispiel angeführt. Vieles davon ist im Buche zu finden.
Die ‹Sinngewalt›
Als Nächstes wird nun der Schritt in den Sinn dieser Dichtung unternommen, das waltende Weltenwort in zwölf ‹Stimmungen› ausgesprochen. Auch hier sei nur kurz aus dem reichen Inhalt etwas angedeutet. Die Widderstimmung fängt an mit dem Ruf: «Erstehe o Lichtesschein». In der Mitte der Vokativ ‹O›. Bernd und Christine Lampe verstehen das Ansprechen dieses Rufes an das Licht wie ein Echo auf das Schöpfungswort der Elohim: «Es werde Licht!» Nun aber sei nicht die Schöpfung des physischen Sonnenlichtes damit gemeint und wiederholt, sondern die des Denklichtes der Wahrheit in der Seele. Eine Wiederholung in der Tat, aber der Auferstehung im Widderzeichen zu Ostern. Von diesem Licht kann es im zweiten (Venus-)Vers heißen: «Erfasse das Werdewesen». Und ‹im Lichte Christi› entwickeln sich von Stufe zu Stufe die Stimmungen bis zu der letzten, indem es im Merkurvers heißt: «Im Ergriffenen suche sich das Greifen». Wir sind beim Selbstbewusstsein, das im Begreifen der Welt und des Geistes auch noch sich selbst begreift. So weiß und vertraut die Seele, dass sie sich an die Welt verlieren kann, ja, muss, um als eine Wiederholung des Karfreitagsgeschehens sich im Geiste der erkannten Welt wieder zu finden. So erfüllt sich in der Fischestimmung das letzte Gralswort (immer in der Mondeszeile), dass deswegen der Verlust Gewinn ‹in sich› sei. Aus dieser Sicht der Dichtung verbinden Bernd und Christine Lampe (ab der Waage) die Strophen mit den zwölf Weltanschauungsnuancen, so wie Rudolf Steiner sie 1914, ein Jahr bevor er die Dichtung 1915 schuf, entwickelt hat.2 Die ersten sechs Strophen in diesem Lichte zu erkennen, dies überlassen die Autorin und der Autor den Lesenden zur selbständigen Entdeckung. Jedoch geben sie einige Hinweise für den, der zurückblickend die Zuordnung von den Gegensätzen aus (jetzt in der Teilung 6 + 6 = 12) untersucht. Vom Realismus der Waage, wo erkannt wird: «Welten erhalten Welten» zurück zum Widderidealismus, wo das Licht der Idee ersteht, das aber in der Seele noch als Erkenntnislicht zum Verstehen der Welt werden soll. Oder zum Beispiel vom ‹Grenzenlosen› des allgemeinen Geist-Pneumatismus zurück zum Löwensensualismus, wo vom «strömenden Lebensschein» gesprochen wird (Jupiterzeile), dem Schein im ‹Sinnesbewusstsein›, an dessen Sinneswesen «in waltender Werdepein» (Saturnzeile) der Einzelmensch sich stoßen wird.
Zwischen den Strophen lesen
Mit den bescheidenen Titeln als Zwischenbemerkungen und Anhang werden Betrachtungen angekündigt, die den großen Wert des Buches ausmachen. Sie verstehen sich eher als ‹Vor› und ‹Nach› den eigentlichen Strophentexten, erhellen aber die unmittelbare Deutung der ‹Stimmungen›, deren eigene Komposition nicht durch eine systematische Thematik verstört werden soll. Ein Höhepunkt scheint mir die fünfte Zwischenbetrachtung, die eine Darstellung der bekannten Gliederung von Werk – Wirkung – Offenbarung – Wesen enthält. Diese Gliederung wird nicht nur im Aufbau der letzten sieben Strophen gefunden, sondern auch innerhalb der Strophen selbst. In den letzten drei Strophen jedoch entfaltet sich darin der gesamte Wirkungskreis der Hierarchien, der dritten Hierarchie in der zehnten, der zweiten in der elften und der ersten in der zwölften Strophe. Eine Brücke zur Grundsteinmeditation.
Der Sonnenweg
Zuletzt wird von den Höhen der kosmischen Stimmungen ins exemplarische Leben übergegangen. Dafür werden zwei Kreise von Repräsentanten der zwölf ‹Lebensnuancen›, zu denen die Weltanschauungsnuancen werden können, angeführt, nämlich die zwölf ‹personae dramatis› der vier Mysteriendramen und der Kreis von zwölf Personen im Johannesevangelium (nicht der Jüngerkreis), die um den Christus eine kosmische Sternenkonstellation bilden (es werden z. B. auch Nikodemus und Cedonius dazugerechnet). Capesius und Strader aus den Dramen werden zum Beispiel dem Widderidealismus bzw. dem Waagerealismus zugeordnet. Durch die knappe Darstellungsart, wenn auch mit vielen Hinweisen, sind die Korrespondenzen in dieser Fülle schon eine Herausforderung zum Weiterdenken.
Diese rätselhafte Dichtung Rudolf Steiners mutet wie ein karges Angebot an: zwölf Strophen mit je sieben Zeilen. Ein Mikrokosmos auf Papier. Zudem in einer eigenen, verschlossenen Sprache, die durch langes Meditieren entschlüsselt sein will.
Eine originäre Besonderheit der Dichtung ist zudem, wie sich der Gang durch die zwölf Stimmungen zu dem Gang der Sonne am Himmel verhält. Gegenüber dem Tagesbogen, vom Osten über den Süden zum Westen, bleibt die Sonne jeden Monat um ein Sternzeichen zurück. Die Jahresfolge Widder–Stier–Zwillinge … usw. ist rückläufig gegenüber dem Sonnenweg am Tag. Vorwärts aber bewegt sich das Fortschreiten des Frühlingspunktes. Dies soll der Weg in die Zukunft sein und ist in der Entwicklung durch die Weltanschauungsnuancen oder Lebensnuancen der fortschrittliche. Die Normalentwicklung wäre dann zum Beispiel Zwillinge–Stier–Widder. Man würde ‹zurückbleiben›, wenn man vom Stier zu den Zwillingen schreiten wollte. Allerdings schreitet die Kulturepochenentwicklung in diese Richtung fort, wie Rudolf Steiner darstellt. Für das Individuum wäre da, glaube ich, noch eine Begründung erwünscht, denn Rudolf Steiner stellt in Berlin 1924 die Entwicklung von Nietzsche, und zwar als eine fortschrittliche, tatsächlich in die andere Richtung dar: Widder–Stier–Zwillinge. Das Gegenbeispiel wäre übrigens J. G. Fichte, der vom Idealismus (Widder) zum Psychismus (Fische), wenn nicht zum Pneumatismus (Wassermann) fortschritt.
Keim für die Zukunft
Man wird der Autorin und dem Autor gerne beipflichten, wo sie ahnen, dass die ‹Zwölf Stimmungen› innerhalb der anthroposophischen Bewegung noch eine Zukunft vor sich haben. Sie sollten sogar den Samen für die dritte Klasse der Hochschule enthalten, wie Rudolf Steiners Seelenkalender für die zweite Klasse und wie der Grundsteinspruch dies für die erste Klasse schon war. Wie dies auch sein mag, dieses Buch gibt viel zu denken. Es liegt – was auch nicht unbedeutend ist – gut in der Hand und hat zwei schöne Lesebändchen. Wohl ein hellblaues für die Dichtung selbst und ein dunkelblaues für den Kommentar. So ist es als Arbeits- und Meditationsbuch gemeint, und in diesem Sinne sei es hier gern empfohlen.
Footnotes
- Namentlich interessieren sich Eurythmistinnen und Eurythmisten für die Spruch- und Eurythmieformen der Tierkreis- und Planetengesten. Zudem soll aber hingewiesen sein auf Michael Aschenbrenner, Der Tierkreis, Verlag am Goetheanum, Dornach 1982 und Helge Reinald Philip, Die Strophengestalt der ‹Zwölf Stimmungen› von Rudolf Steiner, im Selbstverlag, 2003.
- Vgl. die Berliner Mitgliedervorträge, Der menschliche und der kosmische Gedanke, 20. bis 23. Januar 1914, GA 151.