Sechs Bände mit sämtlichen Briefen Rudolf Steiners hat das Rudolf-Steiner-Archiv in Planung, damit die Korrespondenz aus 2500 Briefen und Einträgen an einem Ort versammelt ist. Wolfgang Held sprach mit Martina Maria Sam, David Marc Hoffmann, Taja Gut und Péter Barna über das Projekt, dessen erster Band im Frühjahr erscheinen wird.
Wie wird aus den vielen Briefen Rudolf Steiners ein Buch?
David Hoffmann Taja Gut transkribiert die Briefe, worauf im Archiv zwei Mitarbeitende die Texte nochmals mit dem Original vergleichen. Wir haben also zweimal eine genuine Entzifferung direkt am Objekt. Dann kommt die Textkonstitution, die Bereinigung des Textes und die sog. Briefbeschreibung: Die Provenienz (Herkunft der Briefe) wird festgestellt, die Metadaten werden gesammelt: Standort? Wo bisher gedruckt? Gibt es einen Antwortbrief? Damit ist vor allem Péter Barna beschäftigt. – Dann folgt die Kommentierung. Für den ersten Band hat das Martina Maria Sam durchgeführt.
Was meint Kommentierung?
Martina Maria Sam Man kann es auch Anmerkungen nennen. Alles, was sich im Lesen nicht selbst erklärt – angedeutete Zusammenhänge, Namen, Werke etc. –, wird dort kurz erläutert. Durch das Schreiben der Jugendbiografie Rudolf Steiners war ich mit den Lebenshintergründen gut vertraut, was mir beim Kommentieren jetzt sehr half.
Hoffmann Beim ersten fast vollständig erhaltenen Brief – vermutlich an Josef Köck – stellte sich heraus, dass es in der dritten Zeile bisher eine Fehllesung gab. Jetzt heißt es: «Lieber getreuer Freund, es war die Nacht vom 10. auf den 11. Jenner, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr Mitternacht mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt und da warf ich mich endlich auf mein Lager. Mein Bestreben war von jeher zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt. Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen inne.» In der letzten Ausgabe von GA 38 hieß das: «mein Bestreben war es voriges Jahr zu erforschen …» Eine wichtige Selbstaussage, die fehlgelesen worden ist.
Den ca. 2500 Briefen von Rudolf Steiner im Archivbestand stehen 18 000 Briefe an ihn gegenüber. Da muss es noch viele unbekannte Briefe Steiners geben, oder?
Péter Barna Wir hatten deshalb einen Aufruf in ‹Anthroposophie weltweit› annonciert, um so an verschüttete Briefe zu gelangen. Da kam dann einiges ins Archiv, so etwa im Juni 2020, als uns ein Stoß an Briefen an Joseph Kürschner erreichte. Von diesen hatten wir zum Teil nur schlechte Fotografien aus den 1960er-Jahren oder maschinenschriftliche Abschriften. Das war sensationell!
Gibt es einen Handel mit den Briefen?
Hoffmann Ja, man findet Briefe Steiners in Antiquariatskatalogen, wobei wir darüber manchmal verständigt werden. Oft zirkulieren allerdings auch Faksimiles als Originale. Das können wir dann richtigstellen, aber bei Versteigerungen mitbieten können wir eigentlich nicht. Meistens werden solche Briefe im Katalog abgedruckt, sodass wir zumindest den Inhalt haben.
Sam 2019 bot eine renommierte Berliner Autografenhandlung einen der frühesten Briefe von 1881 für den Startpreis von 8000 Euro an. Wir konnten damals keine Gönner finden, um ihn zu erwerben. Das war schmerzlich, aber zum Glück besitzen wir eine alte Kopie des Briefes.
Barna Der besagte Brief war seit 1967 im Besitz von Walter Beck, der seine Bücher im Verlag am Goetheanum herausbrachte. Es ist bedauerlich, wenn solche Dokumente Rudolf Steiners nach dem Tod des Besitzers nicht ans Archiv oder ans Goetheanum kommen, sondern von den Erben als ‹Sammlerstück› in den Handel gegeben werden. Es gibt aber auch erfreuliche Geschichten in dieser Hinsicht, wie zum Beispiel die erwähnte Schenkung im vergangenen Juni. Da gab es bei einem Brief an Kürschner, den wir nur in Abschrift besaßen, Unsicherheit bezüglich des Datums: 20. oder 30. September? Da wir jetzt das Original erhielten, konnten wir sehen, dass es sich um den 20. September handelt. Außerdem fanden wir auf dem Brief einen stenografischen Entwurf der Antwort des Adressaten, die bisher unbekannt war.
Sam Bei der Durchschau zahlreicher Nachlässe von Briefpartnern Rudolf Steiners in verschiedenen Archiven zeigt sich immer wieder, dass seine Briefe nicht mehr vorhanden sind, zum Beispiel in den Nachlässen von Helene Richter, Engelbert Pernerstorfer, Johannes Rehmke, Karl Julius Schröer, Rosa Mayreder; das liegt daran, dass diese Nachlässe oft nicht mehr vollständig erhalten sind oder diese Briefe schon früher entnommen wurden. Glücklicherweise haben Menschen wie Carlo Septimus Picht, Emil Bock oder Werner Teichert schon in den 1920er- bis 1950er-Jahren Rudolf Steiners Briefe gezielt gesucht und erworben.
Wie sind die sechs Briefbände strukturiert?
Sam Wir hatten uns zwei Vorgaben gegeben: Die Bände sollten ungefähr gleichen Umfang haben und zugleich innere Abschnitte von Rudolf Steiners Leben markieren. Der erste geht bis zu Rudolf Steiners Übersiedlung nach Weimar. Der zweite wird die Weimarer Zeit beinhalten. Dann gibt es einen Band über die frühe Berliner Zeit.
Gibt es da auch ein Register, wenn ich nach Personen oder Worten suche?
Barna Es gibt mehrere Register. Es gibt eine Liste der Briefe. Dann ein Register der Empfänger mit Kurzbiografien sowie ein Namensregister, also mit Namen, die in den Briefen erwähnt werden.
Sam Mit dem ersten Band legen wir ja nun die Standards für alle sechs Bände fest. Dazu gehört auch, dass nach jedem Brief vor den eigentlichen Anmerkungen die Art der Überlieferung, bisherige Drucke, Antwortbriefe dokumentiert werden sowie erwähnte Orte, Werke und Namen.
Den vortragenden Rudolf Steiner kennen wir, den korrespondierenden weniger. Ihr habt jeden Tag viele Briefe gelesen. Welches Bild von Rudolf Steiner entsteht dabei?
Gut Das ist nach Lebensphasen sehr verschieden. Es gab Zeiten, da hat er kaum geschrieben und wurde ermahnt, dass er doch endlich Antwort geben soll. In Weimar war er offenbar sehr allein. Da hat er lange Briefe – an einzelne Mitglieder der Familie Specht, an Rosa Mayreder etc. – geschrieben. Später, in der theosophischen Zeit, um 1911, gab es auch einen merkwürdigen Brief an den Leiter der finnischen Theosophischen Gesellschaft, in dem er schreibt, er könne nicht nach Finnland kommen, weil Marie Steiner erkrankt sei. Über fünf, sechs Seiten hat er sich dabei gewunden, um die Umstände zu beschreiben. Trotzdem will er, dass der finnische Empfänger frei entscheiden solle, dann würde er es doch irgendwie einrichten. Das klingt widersprüchlich, er überlässt es dem anderen, führt aber Fakten an, die eigentlich keinen Spielraum lassen.
Sam Ich glaube, als Geisteslehrer ist man in einer besonderen Lage. Da gibt es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sein Gegenüber nicht zwingen darf.
Wie sehen die Briefe Rudolf Steiners aus?
Barna Steiner schreibt grundsätzlich per Hand mit Tinte, äußerst selten mit Schreibmaschine oder später diktiert er auch gelegentlich. In früheren Jahren hat er seine Schrift häufig und stark geändert, oft beinahe mikroskopisch geschrieben. Das hat zur Folge, dass solche Briefe nicht immer leicht zu entziffern sind. Wir haben allerdings mit Taja Gut jemanden, dem das hervorragend gelingt. Beim Papier ist interessant, dass Rudolf Steiner damit beim Entwerfen sparsam vorgeht. Zettel mit Briefentwürfen nutzt er vielfach und macht dann andere Notizen, zum Beispiel Integralübungen, darauf. Dies liefert oft Anhaltspunkte für die Datierung. Als Briefschreiber geht er anders vor. Er nimmt ein Doppelblatt, dessen unbeschriebenen Teil er nicht abreißt, auch wenn der Brieftext nur die erste Seite füllt. Ich weiß nicht, ob er das anständig fand oder ob es damals eine Sitte war. Das gefaltete Blatt ist ein Standardformat für seine Briefe.
Hoffmann Es gibt auch Fälle, wo diese Doppelbögen zwei- oder dreifach ineinandergelegt sind, wie ein Büchlein.
Barna Rudolf Steiner hat zumindest für wichtige längere Briefe immer zuerst Entwürfe angefertigt. Von vielen Briefen haben wir nur diese, keine Fassung letzter Hand. Mal finden sich diese Vorarbeiten auf Blättern, mal in Notizbüchern.
Sam Es gibt sehr viele Beschwerden, dass er zu wenig schreibe. Das gilt für viele seiner Freunde, für Pauline Specht, Rosa Mayreder und auch für die Korrespondenz mit der Familie. Die Mutter ist oft böse über die seltene Post. Rudolf Steiner war einfach ein produktiver Mensch, von dem viele andere Anregungen haben wollten. Bei seinem großen Bekanntenkreis konnte er gar nicht alle Ansprüche erfüllen.
Es gab Zeiten, da hat er kaum geschrieben und wurde ermahnt, dass er doch endlich Antwort geben soll.
Briefe stehen zwischen dem Gespräch und dem Gedruckten. Sie sind ja so halböffentlich. Welche Facette vom Wesen Rudolf Steiners wird hier sichtbar?
Barna Die Art, wie er schreibt, passt er den Briefempfängern an. Zuerst verwendete er Kurrentschrift. Dann schon ab 1882 Lateinschrift. Den Eltern schreibt er aber hauptsächlich bis zum Schluss in Kurrentschrift.
Hoffmann Auf den Adressaten einzugehen, das findet sich auch im Gestus der Briefe. An Marie Steiner schreibt er anders als an einen Freund. Bei Johanna Mücke kommt das Sozialistische deutlicher zum Vorschein, weil sie in der Arbeiterschule engagiert war. Da nimmt er einen schönen Vergleich zwischen der Theosophie und dem Sozialismus vor. Rudolf Steiner ist im positiven Sinne situativ. Das ist ja etwas ganz Natürliches, dass man sich auf sein Gegenüber einstellt, und doch zeigt es die Facetten von Steiners Wesen.
Sam Ich habe auch den Eindruck, dass er – zumindest Mitte der 1890er-Jahre – bei einigen Briefen so weit ging, sogar die Handschrift für den jeweiligen Empfänger oder die Empfängerin zu ändern.
Hat sich bei Rudolf Steiner auch Briefdiplomatie gezeigt? Ist etwas zwischen den Zeilen zu lesen?
Sam Hier ist es nicht so leicht, ein umfassendes Bild zu gewinnen. Wir dürfen nicht vergessen, dass leider – neben den verlorenen Briefen – auch Briefe verbrannt wurden. Das schmerzt den Biografen, auch wenn es natürlich berechtigte Gründe für diesen Schritt geben mochte, die man respektieren muss.
Hoffmann Es gibt diesen Brief von seinem Geburtstag vom 27. Februar 1925, wo er an Marie Steiner einen langen Brief verfasst. Am Ende schreibt er: «Im Urteil zusammenfühlen und -denken kann ich doch nur mit Dir.» Das sagt er, nachdem er sich ausgelassen hat über den Umstand, «dass Karma auch andere Personen in meine Nähe bringt. […] Aber Du hast Dich zum Verständnis durchgerungen; das ist ein Segen für mich.» Damit meint er Ita Wegman als Pflegende um ihn herum, und Marie Steiner ist auf Tournee in Deutschland. Er dankt für ihr Verständnis, und unmittelbar darauf kommt das Bekenntnis zum Zusammenfühlen und -denken im Urteil. Ich finde, da ist Unausgesprochenes drin: wie Steiner auf sie baut, weil sie darunter gelitten hat, dass er auch mit Ita Wegman etwas teilt. In diesem letzten Brief kommt die große Bedeutung von Marie Steiner für Rudolf Steiner zum Ausdruck.
Hoffmann Es gibt eine Verfügung von Marie Steiner, dass bestimmte Schriftstücke in einem Umschlag nach ihrem Tod verbrannt werden sollen. Das haben die Nachfolger auch ausgeführt. Ich denke, was wir nicht haben, brauchen wir nicht mehr beklagen. Wir haben genügend Material, sodass das Bild Rudolf Steiners abgerundet ist. Ich nehme nicht an, dass man Briefe findet, bei deren Lektüre man das Gefühl hat, Steiners Leben neu schreiben zu müssen.
Darf man Briefe ebenso selbstverständlich wie Manuskripte veröffentlichen?
Hoffmann Damit stellen Sie die Frage nach der Legitimität der Briefausgabe überhaupt. Die Briefe sind fast alle über einhundert Jahre alt. Wenn ein Briefschreiber oder -empfänger nicht will, dass etwas überliefert wird, eliminiert er es selbst. Wenn er das nicht tut, nimmt er selbst das Risiko in Kauf, dass es später gelesen wird. Wir haben alle schon Material von uns vernichtet. Rudolf Steiner hat nie zurückgeschaut. So erlebe ich ihn in Bezug auf sein eigenes Leben. Er hat ja auch die Vorträge – abgesehen von wenigen Ausnahmen – nicht korrigiert. Vieles ist gelaufen, und er hat nach vorwärts gearbeitet. Was ‹delikat› war, ist meiner Meinung nach von Marie Steiner selbst oder danach gemäß ihrem testamentarischen Auftrag vernichtet worden. – Sie hat aber selbst eine zweibändige Briefausgabe gutgeheißen, d. h., sie war für die Veröffentlichung. Heute schulden wir der Welt den Zugang zu diesen wertvollen Zeugnissen.
Ihr habt die Einsamkeit von Rudolf Steiner beschrieben. Aus dem ‹Lebensgang› wissen wir, dass er eine Distanz zu seiner Gemütslage hatte. Wird dies auch in den Briefen sichtbar?
Gut Es ist nicht unbedingt so. Wenn man ihn nur aus den Briefen kennen würde, käme man ihm in bestimmten Phasen nicht näher. Das gilt vor allem für die früheren Briefe. Dabei gibt er über sich nicht mehr Auskunft, sondern es ist eher, was er schreibt, wie er schreibt an die unterschiedlichen Empfänger. Man erfährt nicht mehr Fakten, sondern mehr über ihn als Schaffenden. Es sind Schaffenszeugnisse.
Sam Mir geht es ganz anders. Ich empfinde stark, dass man viel von ihm erfährt. Durch das Kommentieren muss man sich natürlich auch tief in die Briefe einleben. In den Jahren 1890/91, da hat er in Weimar starkes Heimweh nach Wien und den Freunden gehabt, fühlte sich einsam. Das erzählt er auch in den Briefen an die Spechts. Dann spricht er in diesen Jahren abfällig über Ibsen. Er mag ihn nicht leiden. Später aber findet man 1898 eine großartige Würdigung zum 70. Geburtstag und die erschütternden Ausführungen über ihn in den Karmavorträgen 1924. Man merkt eine innere Entwicklung in Bezug auf eine Persönlichkeit. Das kommt öfters vor. Bei Nietzsche war es auch so. Den hat er auch erst mal abgelehnt. Dann kam eine Begeisterung und schließlich wieder eine Distanzierung. Da spiegelt sich das innere Seelenleben, während die Schilderungen im ‹Lebensgang› viel abgeklärter sind. Die Briefe sind Zeugnisse aus der Zeit, unmittelbar spricht da der Dreißigjährige, der Vierzigjährige.
Ich habe auch den Eindruck, dass er bei einigen Briefen so weit ging, sogar die Handschrift für den jeweiligen Empfänger oder die Empfängerin zu ändern.
Hoffmann Ich nehme unmittelbar Autobiografisches daraus. Da sind die Briefe an Marie Steiner die größte Quelle, wo er von seinen eigenen Befindlichkeiten schreibt: von den Vortragsreisen, wie die Übernachtungen waren, wer ihn genervt hat. Da schreibt er ganz unverblümt. Es gibt zwar Dokumente über die Lebenskrise, die er im ‹Lebensgang› beschreibt, über das Gestandenhaben vor dem Mysterium von Golgatha und über den Abgrund des Individualismus, in den er hätte hineingerissen werden sollen. Es gibt aber in den Briefen keine direkten Aussagen dazu. Man kann in den Briefen lesen, dass er den vierten Teil des ‹Zarathustra› als die «Bibel der Gottlosen» bezeichnet und sie Anna Eunike schenkt zu Weihnachten und das Christentum heftig kritisiert. Da merkt man, dass er sich in einer Krise befindet. Über das Leiden an der Krise kommt in den erhaltenen Briefen expressis verbis nichts vor, wir erfahren mittelbar davon, durch die literarischen Zeugnisse. Die Briefe 1897/98/99 sind nicht dunkel, sondern sprühen voller Leben. Man kann lesen, dass eine Krise stattgefunden hat, aber sie wird nicht thematisiert. Die Hauptsache ist dort die Auseinandersetzung mit geistigen, philosophischen, literarischen, organisatorischen Fragen.
Es gibt frühe Aussagen, die vieles, was später ganz zentral wird, vorwegnehmen: Schon 1881 schrieb Steiner: «Wer einmal höhere Wahrheiten gekostet hat, der ist für solch tiefstehende Irrtümer [des Materialismus] nicht mehr empfänglich.» Da hat er eine höhere Wahrheit existenziell durchdrungen, und es ist ein Motiv, das bis 1925 gilt. Auch 1881: «Das Fatale beim Niederschreiben der höchsten Wahrheiten ist nur das, dass man sich der gewöhnlichen Sprache bedienen muss und in dieser die Worte meist Zeichen für sinnliche Gegenstände sind.» Das kommt dann schön wieder in der ‹Akasha-Chronik›, wo er schreibt, dass man sich der «Menschensprache» bedienen muss. Und noch ein Beispiel von 1881: «Ich nehme an, dass der menschliche Geist aus mehreren Teilen besteht […].» Da ist für mich im Keime schon die ganze Wesensgliederlehre enthalten.
Gut Mich hat berührt, wie 1902 etwas Entscheidendes zwischen zwei Briefen passiert. Moritz Zitter versuchte Steiner finanziell zu unterstützen und wollte ihm eine Redaktionsstelle bei der Wiener Zeitung ‹Die Zeit› verschaffen. Steiner spricht mit dem Chefredakteur und schreibt danach an Zitter, dass wohl nichts daraus werde. Eine knappe Woche später schreibt er an Wilhelm Hübbe-Schleiden und dankt ihm für die Zusendung der offenbar erbetenen hannoverischen Logen-Erklärung und kündigt einen Besuch bei dem führenden Theosophen an. Was zwischen den Briefen passiert ist, erfährt man nicht.
Dabei gibt er über sich nicht mehr Auskunft, sondern es ist eher, was er schreibt, wie er schreibt an die unterschiedlichen Empfänger. Man erfährt nicht mehr Fakten, sondern mehr über ihn als Schaffenden. Es sind Schaffenszeugnisse.
Hoffmann Auch die Gleichzeitigkeit von Arbeitsbildungsschule, Theosophischer Gesellschaft, Giordano-Bruno-Bund und Redaktionstätigkeit ist eindrucksvoll. Rudolf Steiner muss unglaublich hin- und hergesprungen sein.
Sam Für ihn selbst war wirklich alles offen in dieser Zeit. Er ist damals für viele Vorträge vonseiten der Arbeiterschaft angefragt worden, er hat bei Versammlungen der Bierbrauer, der Zimmergesellen, der Tapezierer, des Frauen- und Mädchenbildungsvereins etc. geredet. Da hat er eine ganze Zeit wie in zwei Welten gelebt, wurde angeredet mit ‹Genosse› Steiner in der sozialdemokratischen Welt und auf der anderen Seite war die zunehmende Verbindung zu den Theosophen.
Hoffmann Da schreibt er an Johanna Mücke, dass Theosophie und Sozialismus sich nicht widersprechen, sondern zusammengehören.
Sam Leider haben wir aus dieser Zeit kaum Briefe, die uns etwas intimeren Einblick in sein inneres Seelenleben geben – wie früher oder später die Briefe an die Spechts, Rosa Mayreder, Anna Eunike oder Marie Steiner.
Hoffmann Solche nahestehenden Personen müssen weit weg sein, sonst schreibt man keinen Brief. Unter diesem Aspekt ist es für die Nachwelt vorteilhaft, dass Marie Steiner in den letzten Monaten weit weg war, sonst hätten wir die Briefe und wichtige Aussagen Steiners nicht.
Barna Die Post war damals erstaunlich gut. Es gibt viele Karten, die er seinen Freunden in derselben Stadt schreiben konnte und die diese innerhalb von kürzester Zeit am selben Tag erhielten.
Sam Ja, es gab ein effizientes Rohrpostsystem im Wien der 1880er-Jahre, mit sogenannten ‹pneumatischen Correspondenz-Karten›. Zwischen dem Abschicken der Karte und ihrer Ankunft verstrichen manchmal nur 10 Minuten, wie man an den Stempeln sehen kann!
Was ich noch erwähnen möchte, ist, dass einige Geschichten, wie die Briefe ins Archiv kamen, sehr berührend sind. Das hat oft auch ein zeitgeschichtliches Flair. So wurden in den 1940er-Jahren, als Werner Teichert und Edwin Froböse die erste Briefausgabe vorbereiteten, als Gegengaben für Sucharbeiten ins hungernde Wien vom Rudolf-Steiner-Nachlassverein aus Lebensmittelpakete zugeschickt. Oder es wird 1948 im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar angefragt wegen Kopien von Rudolf Steiners Briefen. Die schreiben zurück, dass sie es gern machen, aber vorher Kopierpapier aus der Schweiz brauchen, weil es in Weimar keines gibt. Es ist auch sehr berührend, wie Briefe zu uns kommen. Ein Beispiel dazu noch mit Radegunde Fehr, die Steiner auch im ‹Lebensgang› erwähnt. Eine Eurythmistin aus Stuttgart vertrat in den 1970er-Jahren eine erkrankte Kollegin in Wien – und wurde selbst krank, sodass sie ins Krankenhaus musste. Dort bekam sie einen Besuch und kam mit ihm auf Rudolf Steiner zu sprechen. Das hörte jemand zufällig mit und mischte sich ein: «Ich höre, Sie reden über Rudolf Steiner. Der spielte in unserer Familie auch eine große Rolle.» Dann stellt sich heraus, dass es eine Enkelin von Walter Fehr war, dem Freund von Rudolf Steiner und Bruder von Radegunde. Als eine Art Familiendevotionalien wurden die Briefe von Steiner in der Familie aufbewahrt. Sie wurden der Eurythmistin geschenkt, und die hat sie dann dem Archiv vermacht. Eine erwähnenswerte Besonderheit unserer neuen Briefausgabe ist noch, dass wir neben den vorliegenden Briefen und Briefentwürfen auch die sogenannten ‹erschlossenen Briefe› aufnehmen, also Briefe, die wir nicht vorliegen haben, die sich aber aus Gegenbriefen der Empfänger ergeben. Aus diesen kann man doch einiges Inhaltliche entnehmen, manchmal finden sich sogar Originalzitate aus Rudolf Steiners Briefen wiedergegeben. Das ergänzt manchmal doch in wesentlicher Weise das Gesamtbild.
Die Herausgabe der fehlenden Bände der Gesamtausgabe muss ja vollständig aus Spendenmitteln finanziert werden. Diese Briefsammlung verlangt dabei editorisch gesehen besonderen Aufwand. Gibt es deshalb hier gezielte Unterstützung?
Hoffmann So gerne wir diese editorische Arbeit der Briefausgabe machen, dürfen wir tatsächlich nicht vergessen, dass sie einen enormen Aufwand bedeutet und wir bis jetzt leider noch niemanden gefunden haben, der speziell dieses Projekt finanzieren möchte – aber vielleicht gibt es unter den ‹Goetheanum›-Leserinnen und -Lesern jemanden, der das Briefeschreiben so liebt, wie es Rudolf Steiner tat, und die Ausgabe unterstützen will.
Buch Rudolf Steiner, Sämtliche Briefe Band 1: Wiener Zeit 1879 – 28. September 1890, GA 38/1, Rudolf-Steiner-Verlag.
Erscheint 2021, in Vorbereitung.