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Zuschrift ‹Die Enträumlichung der Welt›

Der Artikel ‹Enträumlichung des Menschen› von Wolfgang Held hat ein Gesprächsfeld über die digitale Technik eröffnet. Dazu erreichen uns zahlreiche Zuschriften, von denen wir nur einen Teil berücksichtigen können. Wir konzentrieren uns dabei auf diejenigen Voten, die bisher ungenannte, weiterführende Gedanken entwickeln.


Nothart Rohlfs

Nachdenken über die Folgen einer verheißungsvollen Entwicklung

Lieber Wolfgang, mit großem Interesse habe ich Deine Ausführungen zu kulturellen Folgen der G5-Technologie sowie Deine Erwiderung zu den eingegangenen Leserbriefen im ‹Goetheanum› gelesen.

Seit unseren seinerzeit gemeinsam mit Joachim Daniel geführten Gesprächen schätze ich Dein phänomenologisches Vorgehen, Deine feine Beobachtungsgabe sowie die freilassend vorgetragenen Urteile, wie Du sie in Deinem erst neulich veröffentlichten Artikel ‹Auf dem Weg zur Großen Konjunktion› (‹Goetheanum›, 1-2/2019) erneut dem Leser als vertiefende Verständnishilfe gleichsam anbietest. In Deinem Artikel ‹Die Enträumlichung der Welt› (‹Goetheanum›, 3–4/2019) gelangst Du nun zu Urteilen, die Du zwar leise und wie nebenbei vorträgst, die mir aber im Hinblick auf ihr Zustandekommen sowie angesichts ihres beinahe apodiktischen Charakters sehr befragenswert scheinen. So schreibst Du gegen Ende Deines Artikels: «Alle Vorgänge, die einen linearen Verlauf haben, […] werden über kurz oder lang digitalisiert werden. Umgekehrt bedeutet es, dass wir Menschen mehr und mehr befreit werden von allem Wenn-dann-Denken, um uns vollständig auf das nichtlineare, das schöpferische Denken richten zu können.»

Du sprichst so, dass ich mich als Leser dabei frage: Woher nimmt der Autor die inhaltliche Zuordnung, die er mit dem «um zu» einleitet? Man könnte den Eindruck gewinnen, als unterstelltest Du mit Deiner Formulierung, die Befreiung von allem Wenn-dann-Denken durch die G5-Technik habe – im Sinne eines Weltenlenkers, Großen Geistes oder göttlichen Unterstützers des Menschen beim Vorantreiben der betreffenden Entwicklung – geradezu den tieferen Sinn, die menschlichen Kapazitäten für nichtlineares, schöpferisches Denken zu erhöhen … Angesichts dessen also, wie Du hier eine mögliche technische Zukunftsentwicklung mit einem hehren Sinn und Ziel verknüpfst, um dessentwillen, so der erzeugte Eindruck, diese Entwicklung überhaupt stattfinde, frage ich mich: Ist dieses Ziel nicht eine völlig jenseits phänomenologischer Beschreibung willkürlich von Dir, sozusagen aus Deinem persönlichen seelischen Ideal-Vorrat vorgenommene Setzung, die in gewissem Sinn über den eigenen Charakter hinwegtäuscht, weil sie ‹so tut›, als sei sie (die Setzung, die Um-zu-Behauptung) ein der dargestellten technischen Entwicklung gleichsam inhärentes Ziel, dem wir doch alle eigentlich gerne zustimmen möchten (kann schließlich etwas, das der Entfaltung unserer höheren schöpferischen Potenziale dient, anders als rundum begrüßenswert sein?!). Mit anderen Worten: Stellst Du nicht «die Befreiung des menschlichen Geistes aus dem Räumlichen» durch die benannte technische Entwicklung so dar, als müsse, ja werde sie dem erstrebenswerten Ziel einer Entfaltung schöpferischen Denkens geradezu zwangsläufig dienen? Und sitzt genau da nicht der Haken, der entscheidende Denkfehler, wo Deine bis dahin so schöne Darstellung ihren phänomenologischen Charakter plötzlich aufgibt und Du eine den Menschen über sich erhebende Zielsetzung, nämlich die Entfaltung schöpferischen Denkens, gleichsam unter dem Deckmantel der Phänomenologie implizit mitlieferst?!

Denn, so scheint mir, es könnte doch, beim oben angeführten Satz bleibend, ebenso gut begründet und in leichter Abwandlung auch heißen: «Alle Vorgänge, die einen linearen Verlauf haben, […] werden über kurz oder lang digitalisiert werden. Umgekehrt bedeutet dies, dass wir Menschen mit dem selbständig und aus eigener seelischer Kraft praktizierten Wenn-dann-Denken tendenziell der Fähigkeit beraubt werden, die Konsequenzen unseres eigenen Handelns erkennen bzw. voraussehen zu können, wozu wir nämlich eben jenes (‹Wenn ich dies tue, dann hat das jene Folgen›-)Denken vorerst noch als ein selbst geübtes und ausgeübtes benötigen.»

Indem wir in unserer Darstellung einer neuen Technik das Urteil fällen, diese ‹befreie› uns von dem und jenem, um dies oder jenes zu ermöglichen, so nehmen wir doch eine selbst getroffene Setzung vor, die wir – bewusst oder unbewusst – demjenigen als Willensimpuls oder Zielsetzung unterstellen, was das jener Technik innewohnende Agens oder der dieselbe leitende Geist sei. Und machen wir uns nicht gut katholisch zum Sprachrohr von ‹Gottes Willen› oder zum Vermittler eines Moralbegriffs ex cathedra, wenn wir unbegründet davon sprechen, der Mensch werde durch die benannte Technik befreit von …, um dies oder jenes infolge der Befreiung zu entwickeln oder auszuüben? Schon wesentlich beschreibender gehen wir vor, so scheint mir, wenn wir, dieselbe Technik charakterisierend, das Urteil aussprechen, sie raube uns langfristig ein gedankliches Vermögen, das wir einstweilen dringend benötigen, um uns der Folgen unserer Taten bewusst zu werden, ob nun prognostisch oder retro­spektiv. Ersteres lässt sich erhoffen, predigen oder postulieren. Letzteres lässt sich mehr oder weniger gut begründen und nachvollziehbar beschreiben: Ohne eigenständig ausgeübtes Wenn-dann-Denken keine Chance, unser Handeln als Ursache und dessen Folgen als Wirkungen jener Ursache fühlend zu erleben und denkend zu begreifen und damit auch das eigene handelnde Wesen (das eigene Ich) als ein in Wenn-dann-Verläufen konsistent sich manifestierendes Wesen zu erfassen.

Wollen wir ohne Not auf etwas verzichten, was uns dies alles ermöglicht? Wollen wir uns vom ‹Herrn› jener Technik im beschriebenen Sinne ‹befreien› lassen von etwas, uns eine als selbständig im Leben ausgeübte Tätigkeit abnehmen lassen, deren Mangel uns als Menschen vollkommen verändern müsste? Oder in den Worten jenes anderen Bildes: Wollen wir uns von jener Technik etwas ‹rauben› lassen, worauf wir einstweilen als Menschen angewiesen sind, wenn wir im bisher erfahrenen und tätigen Sinne Mensch bleiben wollen mit der Fähigkeit, Folgen eigener Taten im Sinne eines Wenn-Dann erlebend zu erkennen, zu verantworten und zu korrigieren?


Antwort von Wolfgang Held

Wo Notwendigkeit aufhört und Möglichkeit beginnt

Vielen Dank für Deinen ausführlichen Blick, bei dem Du Dich auf den Satz konzentrierst: «Alle Vorgänge, die einen linearen Verlauf haben, […] werden über kurz oder lang digitalisiert werden. Umgekehrt bedeutet es, dass wir Menschen mehr und mehr befreit werden von allem Wenn-dann-Denken, um uns vollständig auf das nichtlineare, das schöpferische Denken richten zu können.» Der erste Teil davon ist eine Prognose, in der ich die Entwicklung der letzten Jahre versuche fortzuschreiben, bei der ich vielleicht, um das zu unterstreichen, das Wort ‹vermutlich› hätte einfügen können. Dann verfolge ich den Weg, den jede Technik mir zu gehen scheint, dass sie uns Menschen aus einer Notwendigkeit in eine Möglichkeit versetzt. Die Heizung hier in meinem Zimmer befreit mich von der Notwendigkeit, jetzt Holz zu suchen, das Licht der Lampe, von der Notwendigkeit, bis Sonnenaufgang zu warten, bis ich schreiben kann. Im Großen ist es der Weg vom Land in die Stadt. Es war der von Dir genannte Joachim Daniel, der in seinen geschichtlichen Vorträgen diesen Weg (nach außen in die Stadt, nach innen in die Schrift) als die doppelte Entfremdung, inspiriert von Ahriman, und zugleich als Befreiung von den Naturrhythmen und vom gesprochenen Wort (damit von der Bindung an Raum und Zeit, die das gesprochene Wort bedeutet) beschrieb. Du hast recht, dass damit unermesslich viel verloren ging. Alle Märchen, Sagen und Mythen erzählen uns von dieser alten Welt voller Sinn und Göttlichkeit. Es ist aber wohl eine Welt, in der Freiheit sich niemals entwickeln kann. Mit Recht vergleichen Soziologen den Wandel in die digitale Welt mit dem Wandel, den die neolithische Revolution vor 5000 bis 8000 Jahren gebracht hat. Technik scheint mir ein hochgradig gemischter König zu sein. Der Wetterdienst befreit den Bauern, erfühlen zu müssen, wie sich die Witterung morgen und übermorgen entwickelt. Jetzt kann er sich zurücklehnen oder das so aus dieser Notwendigkeit befreite Gefühl nutzen, um sinnlich-übersinnlich, wie dies Jean-Michel Florin hier im ‹Goetheanum› mit Blick auf die Landschaftsmaler Cézanne und Monet beschrieben hat (‹Goetheanum› 41/2018), die Landschaft tiefer zu erkennen und Agrikultur damit zur Landschaftskunst werden zu lassen.

Die Frage, wo Notwendigkeit aufhört und Möglichkeit beginnt, so verstehe ich Dich, ist in der digitalen Technik viel heikler und feiner, weil mit dem Denken hier der Kern unserer Persönlichkeit betroffen ist. Aber auch hier scheint es mir ein Feld von Notwendigkeit und ein Feld von Möglichkeit und Freiheit zu geben. Fausts ‹Hexeneinmaleins› zeigt mir zum Beispiel den Abgrund des mechanischen, in Notwendigkeit gefangenen Denkens zu sein. In deinem Beispiel mit den karmischen Folgen sehe ich beides, Notwendigkeit und Möglichkeit. Um die Folgen meines Handelns zu verstehen, sollte ich mich in meine Mitmenschen hineinversetzen, was sie denken, fühlen und wie ich ihr Handeln unterstützen kann. Das ist – wenn ich Claus Otto Scharmer in seinen vier Stufen des Hörens folge, vom assoziativen zum faktischen über das empathische zum schöpferischen Hören – ein schlussendlich hochgradig kreativer, künstlerischer Prozess. Während das faktische Hören von Maschinen geleistet werden kann und die Internetkonzerne mit Werbealgorithmen sich mühen, auf kommerzieller Ebene ein empathisches ‹Hören› zu entwickeln, also herauszufinden, was man auch noch gerne kaufen würde, scheint mir das schöpferische Hören dem Geist des Menschen vorbehalten zu sein. Ich glaube, hier ist das Feld berührt, das Rudolf Steiner anspricht, wenn er den Lehrern empfiehlt, die latenten, unausgesprochenen Fragen der Schüler zu hören. Mein Gedanke ist also, dass die technische Entwicklung uns nun umso mehr herausfordert, in die von Dir genannte Karmaerkenntnis einzutreten.


Diese Beiträge schließen sich an den Artikel in der Ausgabe 3-4 und die Zuschriften in den Ausgaben 6 und 8/2019 an.

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