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Zur Fontanelle der Sonne

Der Sonnenwind bestimmt das kosmische Wetter im Planetensystem. Seinen Ursprung hat er von den Polen der Sonne, ein Bereich, der bisher allen Fernrohren verborgen blieb. Das ändert die Sonde Solar Orbiter. Die Antworten dieser Sonnenexpedition könnten auch anthropologisch interessant werden.


Am 10. Februar war es endlich so weit. Die Sonde Solar Orbiter startete vom amerikanischen Cap Canaveral auf ihre zehnjährige Mission zur Sonnenerkundung. Ihre Bahn ist spektakulär, denn die Sonde wird die Ekliptik, die Ebene, auf der alle Planeten laufen, verlassen, um die Sonne beobachten zu können. Nur die Sonde Ulysses in den 90er-Jahren hat sich in diese Region vorgewagt. Damals war es allerdings in großer Distanz zur Sonne. Die jetzige Sonde wird dem Gestirn mit 42 Millionen Kilometern Abstand näher als Merkur kommen. Erstmals wird es dadurch möglich, die Kopfregion der Sonne in den Blick zu nehmen und dabei Details von nur 30 Kilometern Größe noch erkennen zu können. Hiervon versprechen sich die Astronomen und Astrophysiker viel, denn an dieser bisher ungesehenen Polregion der Sonne scheinen die Verwirbelungen im Magnetfeld der Sonne ihren Anfang zu nehmen. «Das Magnetfeld der Sonne ist wie ein Wollknäuel, mit dem eine Katze gespielt hat», veranschaulicht der Astrophysiker Sami Solanki die verdrillten Feldlinien des solaren Magnetfelds. Im Zyklus von elf Jahren verknotet und verdreht sich das solare Magnetfeld, bis es sich schließlich durch einen bisher unverstandenen Prozess umdreht. Nordpol wird zu Südpol und Südpol wird zu Nordpol.

Auf der Erde kommen solche Polsprünge nur selten vor. Anhand von Mangan-Ablagerungen auf dem Meeresgrund lassen sie sich auf unserem Planeten erdgeschichtlich datieren. Bei der Sonne ist alles anders. In ihrem hochbeweglichen Innern, wo gefangene Schallwellen den Sonnenleib durchziehen, ihn pulsieren lassen und wo sich der Äquator schneller dreht als die Polregionen, wird das Magnetfeld ständig verformt. Die Sonnenflecken, aber auch gewaltige Materieauswürfe und Protuberanzen auf der Sonne haben ihren Ursprung in diesem verwirbelten Magnetfeld, wie auch die Intensität des Sonnenwindes. Erst 1959 sagte der Physiker Eugene Parker diesen fortwährenden Teilchenstrom von der Sonne voraus. Anders sei der Gegensatz, so Parker, zwischen der kalten interstellaren Leere des Raumes und der solaren Masse nicht zu erklären. Die Sonne müsse fortwährend etwas in diese Leere hineingeben. Wenige Jahre später bestätigte sich Parkers Annahme. Tatsächlich geht von der Sonne fortwährend ein feiner ‹Wind› aus, der eine gewaltige periphere Sonnenhülle über das Planetensystem und weit darüber hinaus stülpt, die sogenannte Heliopause, und jenseits des irdischen Polarkreises das imposante Nordlicht entfacht. Astrophysiker sprechen hier von einem Sonnenwetter, das das gesamte Planetensystem durchzieht, ja etwa die hundertfache Entfernung der Erde zur Sonne ausmacht. In diesen Jahren wandern die Sonden Voyager I und II, 1977 gestartet, durch die Bugwelle dieses Sonnenraums. Mit einer Geschwindigkeit von 100 000 Kilometern pro Stunde eilen sie in die kosmische Weite und erst jetzt erreichen sie den Rand der Sonnenwelt. Das lässt erahnen, welches Ausmaß und welche Wucht dieser Sonnenwind besitzt, der seinen Ursprung im so rätselhaften Magnetfeld der Sonne hat.

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Wie ist es möglich, dass die Sonne in einem solch unvorstellbaren Maß beweglich ist und zugleich in absoluter Treue und Gleichförmigkeit Wärme und Licht sendet?

Die Sonnenphysiker hoffen, mit Solar Orbiter die Entstehung dieses Magnetchaos besser verstehen und dadurch das Rätsel lüften zu können, warum die Magnetlinien und mit ihnen die Sonnenflecken im Rhythmus von elf Jahren zu- und wieder abnehmen. Um das 100-Fache steigt bei den Verdrillungen der Magnetfelder die Röntgenstrahlung der Sonne, sodass die sichtbaren Sonnenflecken nur ein kleiner Teil der Veränderungen sind, die sich im Sonnenleib ereignen und dann das ganze Planetensystem prägen. Zum Jahreswechsel 2019/20 sind die ersten Sonnenflecken des neuen Zyklus beobachtet worden. Wie üblich zeigen sie sich in den polnahen Regionen der Sonne. Dort scheint die Verwirbelung des solaren Magnetfelds seinen Anfang zu nehmen.

Um diesen Bereich in den Blick nehmen zu können, muss die Sonde Solar Orbiter allerdings eine doppelte Schwierigkeit bewältigen. Zum einen muss sie der Sonne möglichst nah kommen. Das verlangt extrem viel Energie, um die Umlaufgeschwindigkeit, die die Erde besitzt, abzubremsen. Sie muss ungefähr 50-mal mehr Energie aufwenden, als wenn man zum Mars fliegt. Das gelingt nur mithilfe mehrerer Bremsmanöver (Swing-by) durch die Schwerkraft von Venus und Erde. Außerdem muss die Sonde sich aus der Ebene der Ekliptik befreien. Auch das verlangt viel Kraft, was ebenfalls nur durch den wiederholten Schwung am Planeten Venus möglich ist. Nach fünf solchen Swing-by-Manövern ist es 2023 dann so weit, dass die Sonde der Sonne aus nur 42 Millionen Kilometern Distanz (Distanz Erde–Sonne = 149 Mio. km) aufs Haupt schaut. Dabei wird die Sonde auf 500 Grad erhitzt. Ein Hitzeschild sorgt allerdings dafür, dass das nur die Front betrifft. Für die Fotos wird das Schild dann für Momente geöffnet. Mit der schon 2018 gestarteten zweiten Sonnensonde Solar Probe, die noch näher auf die Sonne zufliegen wird, aber keine Fotos macht, sondern nur Temperatur und Strahlung untersucht, dürfte das physikalische Bild der Sonne reicher werden. Dabei geht es den Astrophysikern vor allem um zwei Rätsel: Wie ist die enorme Beschleunigung der Masseauswürfe zu verstehen und wie der extreme Wechsel von Wärme und Bewegung? Das sind die Fragen.

Das eigentliche Motiv lautet wohl: Wie ist es möglich, dass die Sonne in einem solch unvorstellbaren Maß beweglich ist und zugleich in absoluter Treue und Gleichförmigkeit Wärme und Licht sendet? Wie können die Gegensätze von Veränderung und Beständigkeit in der Sonne eine solche Einheit feiern? In wohl allen Religionen und spirituellen Weltanschauungen ist die Sonne Bild des Göttlichen und im Weiteren auch der menschlichen Persönlichkeit. Wer auch aus spiritueller Perspektive auf die Welt schaut, wird die Antworten der beiden Sonden aus dieser Sicht lesen und fragen: «Können die Sonden das Geheimnis ein wenig lüften, dass das menschliche Ich umso beständiger wird, je beweglicher und dynamischer es erscheint.»


Bild: Hier gewaltiger Auswurf, fotografiert von der Solar Dynamics Observatory, 31. August 2012 (NASA). Verknotete Magnetfeldlinien lassen solche Flares, Protuberanzen und dunklen Flecken auf der Sonne entstehen.

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