Zu lernen heißt zu lieben

Urs Bihler spielt King Lear am Goetheanum. Zu Beginn des Dramas fragt der König seine Töchter, wie sie ihn lieben. Hier spricht nun der Schauspieler Urs Bihler selbst über das große Gefühl. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Auf meine Frage, über die Liebe zu sprechen, sagtest du: Da will ich lieber schweigen. Warum?

Urs Bihler Weil das Mysterium ‹Liebe› etwas ist, was ich mir fortlaufend erkämpfen muss. Die Fähigkeit zu lieben, das muss ich mir erringen. Dabei habe ich gemerkt, dass dazu gehört, meine Sinne zu schärfen, feiner wahrzunehmen, wie ich meine Liebe ausdrücken kann, sie leben kann. Ich werde feinfühliger für die Zwischentöne und beobachte zugleich: Je mehr ich mich um Liebe bemühe, desto empfindlicher werde ich für Lieblosigkeit.

Woran zeigt sich Lieblosigkeit?

Hier macht der Ton die Musik. Unsere menschliche Stimme ist so transparent für Liebe. Man mag eine falsche Sache sagen können, ohne dass es jemand merkt, aber Lieblosigkeit lässt sich nicht verbergen. Zur Lieblosigkeit möchte ich ergänzen, dass es auch den umgekehrten Fall gibt. Da kommt Liebe über mich und ich weiß nicht, wie ich sie beantworten soll, wie ich resonieren soll.

Welche Rolle spielt die Liebe unter den Schauspielenden?

Ich bin unglaublich neugierig auf Menschen, mit denen ich noch nie gespielt habe, auf was ich da stoße. Wenn ich im gemeinsamen Spiel einen Funken von Abneigung, von Reserve bei meinem Mitstreiter, meiner Mitstreiterin empfinde, dann verunsichert mich das total. Da nützt mir dann auch meine 50-jährige Spielerfahrung nichts. Gerade wenn man im Schauspiel gemeinsam die Wahrheit suchen möchte, ist die Liebe zueinander unendlich wichtig.

Stimmt es, dass wir Menschen uns heute näher sind? Dass die Panzer, die wir zum gegenseitigen Schutz tragen, nicht mehr stabil sind?

Ja, das ist interessant, und da ist King Lear ein Vorbild für mich, denn ich habe das Gefühl, dass er sich sein Leben lang in Formen gezeigt und verstanden hat und dann Form nach Form preisgibt, ja, sich entäußert. So ungeschützt sind wir empfindlich. Da kann uns eine kleinste Aktion oder auch nur ein Wort in den Schlamassel reiten, sodass man alles infrage stellt.

Yamila Klingler als Cordelia

Weil man so ungeschützt ist?

Ja, weil Liebe etwas ist, was man nicht einfach sicher hat. Das ist ja das Faszinierende, die Liebe ist immer beweglich. Das ist es, was sie mit dem Leben verbindet.

Und doch wird von ewiger Liebe gesprochen.

Ja, ja, die ewige Liebe! Da sehe ich Paare in meiner Generation, die sich nach 30 Jahren trennen. Und das erschreckt mich dann schon. Das ist für mich wie ein inneres Erdbeben. Ich urteile nicht, denn ich bin selbst ein Geschiedener. Ich urteile überhaupt nicht. Und trotzdem erschüttert es mich, dass das gemeinsame Weiterleben nicht möglich ist. Wir setzen Kinder in die Welt, wir ziehen sie auf, dann kommt der Moment, wo sie entfliehen, und dann findet sich kein Weg, die Liebe neu zu leben. Das finde ich erschreckend.

Hängt das damit zusammen, dass uns kaum etwas so sehr prüft wie die Liebe?

Ja, unbedingt. Im Kern unserer Persönlichkeit.

Als Künstler, als Schauspieler bist du damit beschäftigt, den Himmel, das Urmenschliche auf die Bühne zu bringen. Und da sagst du, das Gelingen hänge davon ab, wie sich die Mitspielenden lieben, wie sie sich mögen. Was bedeutet die Liebe für die Kunst?

Urs Bihler als King Lear

Da kommt es mir zugute, dass ich schon einen langen Weg hinter mir habe. Das Aufeinandertreffen mit einem unbekannten Menschen, mit dem ich dann auf der Bühne stehe, und dann im Spiel so zu tun, als ob man sich ein Leben lang kenne, da geht es immer um die Liebe. Auf der Bühne spielen wir miteinander und die höchste Form des Miteinanders ist die Liebe. Dabei kommt es im Probenprozess darauf an, all das wegzuschaffen, wegzuräumen, was hindert. Das sind oft ganz alltägliche Dinge, die sich zwischen uns stellen. Warum muss sie rote Schuhe tragen?

Wie baust du diese Sperren ab?

Ganz pragmatisch. Es geht darum, sich zu sagen, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann. Das ist es ja, was wir begreifen müssen. Es gibt die Kategorie ‹nicht zu ändern›. Ja, und das ist, was ich immer besser in den Griff bekomme.

Wie hat sich deine Fähigkeit zu lieben in der Biografie verwandelt? Gibt es eine Art, wie man als Jugendlicher liebt, im mittleren Alter liebt und wie das eine Reife gewinnt?

Ich denke im jugendlichen Alter schwingt das einfach. Da habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich schwimme einfach und gehe nicht unter. Heute ist jeder Schwimmzug doch irgendwie bewusst. Ich spüre, in welchem emotionalen Zustand ich bin, und weiß, jetzt kommt dieser Mensch, mit dem ich in Liebe verbunden bin. Dann besteht ein erstes Gebot darin, dass ich mich für diesen Menschen öffne, und als Zweites, dass ich mir klarmache, dass er oder sie die letzten Stunden ganz anders verbracht hat als ich selbst und deshalb alles Recht der Welt hat, in einem anderen Zustand zu sein als ich. Ja, wenn ich den ganzen Vormittag eine Rolle gelernt habe, dann bin ich in anderer Verfassung als meine Frau, die in der gleichen Zeit mit ihrer Schulklasse unterwegs war. Ein Verantwortungsgefühl für das Leben zu entwickeln und die Kostbarkeit der Liebe darin – darum geht es.

Leben und Liebe – was macht die Liebe mit dem Leben?

Ich sitze im Zug. Mir geht es gut. Ich freue mich, dass ich jetzt auf dem Weg bin zu etwas, was ich gern tue: Theater spielen. Und mir gegenüber sitzt eine Frau, die sich in eine Härte eingegraben hat. Ich sehe es in ihren Gesichtszügen, ihren Regungen, ihrem stumpfen Blick. Ja, das lässt mich dann sofort überlegen: Was ist ihr denn widerfahren? Warum? Warum muss die jetzt so schauen, wie sie schaut? Ich wende mich ab und schaue wieder hin, und da ist der Schrecken noch immer in ihren Augen. Was ist denn los? Das lässt mich dann fantasieren, imaginieren. Dann habe ich so einen Drang, ihr von meinem Gutsein, das mir durch die Glieder rauscht, etwas zu geben. Es gibt doch keinen Grund für diese abgründige Melancholie, wir sitzen doch einfach da, im Zug! Liebe und Leben.

Du hast jetzt hier eine Frau beschrieben, der die Liebe fehlt. Was macht Liebe mit uns, aus uns?

Die Liebe befähigt uns, anderen Menschen wirklich zu begegnen, im guten Sinne, im Sinne des Lebens. Darum ist es erschreckend, wie diese Vereinsamung um sich greift. So viele Menschen leben für sich allein und meiner Ansicht nach drohen sie damit eigentlich das Leben zu verpassen. Das Leben ist immer ein Leben mit anderen, weil wir doch von anderen am meisten lernen.

Ist Liebe die tiefste Form, vom anderen Menschen zu lernen?

Ja, das glaube ich schon. Ich sage Ja zur Andersartigkeit, die wir ja immer tiefer erfahren, sage Ja dazu, dass er oder sie anders tickt, anders scheut, anders fühlt. Das wahrzunehmen und zu verstehen als ein mögliches, anderes Leben, obwohl oder gerade weil es sich unterscheidet von dem meinen, das ist ein Lernprozess.

Bist du durch deine zwei Ehen mehr Urs geworden. Kannst du das beobachten?

Ja, das kann ich beobachten, aber trotz meiner 78 Jahre noch nicht lange. Ich war immer ein Spätentwickler, weil ich eine Frühgeburt war. In meiner Jugend war alles spät. Ich glaube, das hilft mir auch, mich mit dem Tod zu versöhnen.

Wie meinst du das?

Wenn ich jetzt immer noch ein bisschen mehr begreife, was das ist, zu lieben, wie ich das ausdrücken kann und wie man die Liebe leben kann, dann bewirkt das eine Gelassenheit, die mir hilft, zu allem Fremden wirklich Ja zu sagen. Ich liebe das Leben, und da ist der Tod schon etwas sehr Fremdes. Lieben zu lernen, bedeutet dann, zu ihm, diesem großen Fremden, Ja zu sagen. Ja, es ist gut, es ist gut. Er kann kommen. Ich habe eine Schwester, die jetzt über 90 Jahre alt ist und in den letzten Jahren diese Bereitschaft, diese größte Bereitschaft, die es gibt, entwickelt hat, gelassen zu gehen. Nicht weil sie lebensmüde ist, sondern weil sie zu lieben gelernt hat.

Als Schauspieler bist du gewohnt, mit großen Gedanken umzugehen. Jetzt kommen ein paar solche Gedanken: Augustinus sagt: Der Wert eines Menschen zeigt sich nicht daran, was er weiß, sondern daran, was er liebt.

Das ist etwas, was ich kenne. Wie viele Rollen habe ich gespielt, wo eine Figur etwas nicht weiß. Manchmal weiß es das Publikum, aber die Figur nicht. Das macht sie so liebenswert.

Und du hast in der ‹Faust›-Inszenierung die Rolle des Mephistos gespielt, hast damit eine teuflische Figur lieben lernen müssen. Was war das für eine Erfahrung?

Dass im Bösen eine Lust liegt, dass sich hier die Energie bündelt. Dann beginnst du, das Böse zu lieben, und es scheint dann gar nicht mehr so dunkel zu sein. Da wird etwas frei. Das hat mich gerade bei der Schlussszene beschäftigt, wo das Böse scheitert und damit menschlich wird.

Als wir über Shakespeares ‹King Lear› sprachen, hast du gesagt: «Das Stück ist großartig, aber da ist kein Humor drin.» Den müsse man erst finden. Wie hängen Humor und Liebe zusammen?

Liebe ist oft ein Spiel, und das ist der Humor auch. Ja, mir scheint, Liebe und Humor sind beinahe dasselbe. Vielleicht sind wir in der Liebe zu zweit, damit einer, eine von beiden den Knopf für den Humor findet, wenn es zu schwer wird. Ich glaube, wo wir wirklich lieben, sind Lachen und Weinen sehr eng beisammen. Das ist auch bei King Lear zu sehen. Du weißt manchmal nicht, ob er lacht oder weint.

Wenn die Jüngeren dich auf der Probe jetzt fragen würden: ‹Wie liebt man?›, wie antwortest du?

Das Anderssein des oder der anderen mit großem Herz nehmen.


King Lear Schauspiel von William Shakespeare
Regie, Bearbeitung: Andrea Pfaehler.
Lichtdesign, Bühne, Co-Regie: Klaus Suppan.
Projektensemble der Goetheanum Bühne mit Urs Bihler als König Lear.

Premiere Fr. 20. Januar 2023 um 19 Uhr, Schreinereisaal
Aufführungen 21.1., 22.1.2023
Weitere Aufführungen und Tickets: King Lear


Fotos François Croissant

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