In Menschengemeinschaften vertrauen wir auf einen respektvollen Umgang und auf ein Leben gegenseitiger Hilfestellungen. Ich bin dankbar, dass ich durch unzählige Begegnungen den Umgang mit Mitmenschen und meine Menschenkenntnis beständig erweitern konnte. Denn das Leben wird reicher, wenn es von verschiedensten Sichtweisen beleuchtet und auf unterschiedliche Weisen interpretiert wird. Gemeinsam gelangen wir zu neuen Einsichten, wenn wir den Willen zum Dialog und den Mut zur Verständigung haben.
In der Corona-Krise, die nun schon so lange andauert, gibt es im sozialen Umgang ganz eigentümliche Entwicklungen. Das Internet wurde überfüllt mit Anklageschriften und Misstrauensvoten, in Videobotschaften und Berichten wurden Zuhörenden und Lesenden Zusammenhänge vorgespiegelt, die es so gar nicht gibt. Erschreckende Szenarien machten vielen Menschen glauben, dass die desolate Lage von langer Hand geplant und die Menschen zum Spielball der herrschenden Klasse gemacht worden waren. In solchen Berichten diskreditierten Vortragende leitende Personen und behaupteten gar, die Ziele der herrschenden Klasse zu kennen. Inhalte dieser Art wurden von Benutzerinnen und Benutzern über verschiedenste Medien geteilt, weitergeleitet oder mit Links versendet.
Solche Gedankenverwirrungen gehen nicht spurlos vorüber. Verschiedene Menschen fühlten sich stark angesprochen. Da gab es Menschen, die eine weltweite Manipulation gewärtigten, die Argwohn hatten und auf Schritt und Tritt befürchteten, einer List zu verfallen. Ihre Seelenhaltung wurde durch all diese Mitteilungen erschüttert. Wies ich einmal darauf hin, dass mir eine Mitteilung völlig abstrus vorkam, wurde mir entgegengehalten, dass die Fakten vielleicht nicht alle korrekt seien, aber der Leitfaden durchaus im Bereich des Möglichen liege.
Andererseits gab es Menschen, die in einer Sammelwut Fakten zusammensuchten. Diese Fakten wurden so arrangiert, dass sich ein Argumentarium ergab, mit dem die Grundmeinung gefestigt und gesichert schien. Wurde die Meinung stark genug, so folgten darauf Thesen. An diesem Punkt angelangt, wandelte sich die Haltung in Groll, den man bezeichnen konnte mit dem Nicht-einverstanden-Sein. Es fand eine Abkapselung mit Gleichgesinnten statt. Der Groll wandelte sich zu einem Widerstand-leisten-Wollen und es folgte eine Anklageschrift, ohne Verantwortliche miteinzubeziehen.
Unter Art. 16 ist in der Schweizer Bundesverfassung die Meinungs- und Informationsfreiheit festgeschrieben. Es ist ein Fehlschluss, wenn man sich deswegen in Sicherheit wähnt. Wurde mit der Anklageschrift nicht längst die bloße Meinungsäußerung überschritten? Standen zudem im Diskurs diffamierende und ehrverletzende Formulierungen, so muss man sich bewusst sein, dass die von der Bundesverfassung nicht geschützt sind.
Vom rein ethischen Standpunkt aus scheint mir die Entwicklung solcher Schriften bis zur Meinungsbildung hin völlig berechtigt, ja sogar förderlich. Dann aber verlangt es den Mut, sich mit den Verantwortlichen zusammenzusetzen. Erst das Gespräch ist ein Wirklichkeitstest, erst durch den Dialog bekommt die These Leben und kann sich in die Wirklichkeit des sozialen Lebens einfügen. Wenn diese Auseinandersetzung in der Anklageschrift fehlt, verliert sie an Bedeutung und Berechtigung, sie reduziert sich auf einseitige Sichtweisen oder wird zur bloßen Diffamierung.
Viel komplexer nehmen sich solche Anklageschriften aus, die in ihrem Diskurs Zitate aus Vorträgen Rudolf Steiners einfügen. Die Zulässigkeit solcher Zitate ist, meiner Meinung nach, fragwürdig. Wer seine These nicht durch selbständiges Denken entwickeln kann und zur Berechtigung seiner Ansichten Zitate verschiedenster Quellen benutzt, wirkt nicht sehr überzeugend. Zudem sind Sätze aus Vorträgen Rudolf Steiners immer in Kontext zu lesen. Werden sie aus ihrem Zusammenhang gelöst und als ‹Vorhersagen› oder ‹Prophezeiungen› gedeutet, die auf heutige Ereignisse anwendbar sein sollen, wirkt diese Sichtweise befremdend.
Ich bin der Ansicht, dass die Aussagen Rudolf Steiners eine geisteswissenschaftliche und fachkundige Untersuchung verlangen, die sich durchaus eine Studiengruppe zum Ziel setzen kann, deren Studienergebnisse zuletzt von anthroposophischen Fachkräften geprüft werden sollen. Wer diesen Weg meidet, überschätzt seine eigene Meinung.
Wie kann man mit allen Menschen, die aus der Anthroposophie arbeiten wollen, einen gemeinsamen Weg finden? Spaltungen, Verurteilungen bis hin zu Verleumdungen gab es in der Geschichte der anthroposophischen Bewegung zur Genüge. Wir müssen unseren Fokus auf heilende statt zerstörende Kräfte richten.
Ich habe dieses Thema aphoristisch beleuchtet. Viele Aspekte verlangen eine intensive Auseinandersetzung. Ich hoffe, dass genügend Menschen an diesen Problemstellungen arbeiten wollen, vor allem den Verursachenden möchte ich Mut machen, es zu tun.
Kontakt hansvanderheide@gmx.net
Titelbild: Ryoji Iwata von Unsplash