«Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.»
(Friederich Hölderlin, Patmos)
2020 ist das Hölderlin-Jahr. Mit seiner Dichtung verweist Hölderlin immerfort auf die Bedrohung der menschlichen Existenz – er spricht vom «Zerriss»! Das Auftreten der Coronapandemie ist wohl als Schicksalsmoment der Menschheit zu begreifen, als ein Schicksal, das unmittelbar jeden Menschen betrifft. Was machen wir mit dem, was uns Unwissenden da in diesen Tagen begegnet? Wo führt es uns hin – was ruft uns zu? Das Nichtwissen ist Schicksal des Menschen. Wie Prometheus an den Felsen, so sind wir Menschen an das Nichtwissen unseres Schicksals geschmiedet. Doch «In lieblicher Bläue blühet …» (Hölderlin) – wie offen steht doch der Himmel über uns! Was strahlt und glänzt uns Menschen aus dieser frischen Ätherbläue entgegen? Fragend und unwissend blicken wir hinaus. Eines steht wohl fest: Es wird nach der Krise nichts mehr so sein, wie es vorher war. Neues, Unbekanntes stellt sich ein, durchbricht die Gewohnheiten unseres alltäglichen Lebens. Indem wir die Sicherheit gemachter Strukturen verlieren, werden die Fragen nach der Existenz des Menschen wieder vorrangiger. Besinnung wird notwendig – Besinnung auf das, was uns wesentlich ist. Uns für das Neue zu öffnen heißt, Altes und Gewordenes loszulassen, Gewohnheiten zu unterbrechen und wirklich aus dem heraus zu leben, was ist, und eine neue Heimat aus uns selbst heraus zu gewinnen. In diesem Sinne ist diese Zeit vielleicht als ein Gethsemane-Moment zu verstehen, als ein Moment des Wachens und Bewusstwerdens für das, was uns aus der Zukunft entgegenkommen will.
«Siehe, ich mache alles neu.» (Apok. Das Neue Jerusalem)
Ninetta Sombart, ‹Ostermorgen› (Ausschnit), Acryl auf Leinwand, 75 × 98 cm