In verschiedenen Schichten unseres Seins zeigt sich Zartes mannigfaltig.


Zarte Gedanken

Gedanken sind Beziehungen zwischen zwei- oder mehrerlei. Zarte Beziehungen sind mögliche, veränderbare, werdende, zerbrechliche. Zarte Gedanken definieren nichts, sie beschreiben Möglichkeiten, Befragungen, sie muten an: Ist es nicht so, dass sich hier etwas vollzieht zwischen A und B? Oder: Heute fühlt es sich an, als würde sich etwas Goldiges entfalten. Anders: Macht nicht jeder Tod zart? Empfänglich wach für das Unverfestigte, das Sich-Lösende, das, was feiner ist als die Luft? Zarte Gedanken sind Aufmerksamkeiten für den Weltenäther. Zart ist die Anwesenheit innerer Welten. Zarte Gedanken sind durchlässig, sie fassen an, was nicht angefasst werden kann.

Philipp Tok


Nicht bedrängen

Zartheit, das Lebendige zu spüren und es nicht zu bedrängen. Es sanft zu umfassen ohne Druck. Es sein zu lassen und dennoch in Verbindung zu treten. Eine feine Substanz, durchlässig, aber stark, wohlwollend, bestärkend, belebt. Es braucht Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und das Spüren, um zu bestehen.

Michaela Haider


Zart und stark zugleich

In der Zeit, als mein Baby noch ganz klein war, haben mir Menschen manchmal gespiegelt, dass sie mich als zart empfinden. Eine Mutter mit Kind ist ein Abbild des Zarten. Und auch ich selbst habe mich zart gefühlt: Zart in dem Neuwerdungsprozess als Mutter, zart durch die bahnbrechenden körperlichen Veränderungen einer Schwangerschaft, Geburt und Rückbildung, die sich innerhalb recht kurzer Zeit vollziehen. Zugleich liegt in dieser Lebensphase eine unheimlich schonungslose Kraft. Trotz eigenem Schlafmangel ganz für ein Wesen da zu sein, ihm einen Raum zu bereiten und zu halten, es durch Gefühle hindurch zu begleiten und Fels in der Brandung zu sein. Nie zuvor in meinem Leben brauchte ich in mir selbst tagtäglich eine solche Aufrichtekraft.

Hanna Sharma


Zartes Sterben

In wenigen Wochen wird der Raps blühen. Dann werde ich an die Ostsee fahren. An einen Strand, der wie unversehrt in der frühen Dämmerung liegt. Das Wasser wird so durchsichtig und klar sein, dass ich jedes einzelne Sandkorn sehen kann. Ich werde ins Meer hineinlaufen. Schritt um Schritt, so leise es mir möglich ist, um die noch schlafenden Schwäne nicht zu stören. Ich werde weit gehen, denn das Meer ist hier sehr flach. Noch schweigen die Vögel, bald wird der Kuckuck rufen. Der Duft von Jasmin weht weit hinaus.

Der Untergrund verändert sich, ich nähere mich der Zone, in der das Seegras wächst. Ich werde bis zur Hüfte im Wasser stehen. Langsam wird es lichter, der Tag erwacht. Wind wird aufkommen, die Wellen werden mich in ihr Wiegen aufnehmen, ich werde eins mit dem Meer. Ich bereite mich vor. Spicke den Köder. Ein kleiner Doppelhaken, scharf geschliffen. Hornhechte sind gierig in den Tagen ihrer Laichzeit. Sie schlucken den Köder tief. Jeden Fisch, den ich hier auf diese Weise fange, muss ich töten.

Silberglänzend liegt Belone belone in meiner Hand. Ein wendiges, weichhäutiges Tier. Ich schaue ihm in die Augen. Danke ihm. Steche ihm ins Herz. Sein Blut ist lau, fließt über meine Hände ins Meer.

Am späten Vormittag werde ich viele Fische getötet haben.

Langsam, demütig und still gehe ich wieder an Land.

Katharina Müller

‹Lichthaut›, Gilda Bartel, Collage, 2023/24. Getrocknete Blüten, pigmentiertes Transparentpapier, Faden.

Schwarz und Rosa

Als meine Mutter, die Zeit ihres Lebens (zumindest als ich sie kannte) schwarz getragen hat, im Sterben lag, erkannte sie übrigens: Rosa ist eine heilsame Farbe, warum habe ich das nicht viel früher bemerkt? Wir haben sie dann in ihrem rosafarbenen Lieblingspullover begraben und ihre rosafarbene Kette trage ich heute manchmal, wenn mir nach heilsam zumute ist.

Estella Mare


Zartes Grün

Es ist eines der schönsten Gefühle, das Feld zu sehen, in das man seine Samen gesät hat, und dann plötzlich dieses wirklich zarte Grün aufkeimen zu sehen. Das ist ein Moment der Ehrfurcht. Wir haben gelernt, dies als gegeben hinzunehmen, und übersehen dabei das große Wunder, das es ist und darstellt – die Arbeit der Götter in Partnerschaft mit den Menschen.

Eduardo Rincon


Farbe der Scheu

Immer und überall kommt mir mein Leben entgegen.

Und ich habe nicht überall und nicht immer spontan das Gefühl, es sei mein Leben.

Scheu sehe ich Gegenwart und Zugehörigkeit als die großen und oft unentdeckt bleibenden Rätsel, vor allem zwischen Menschen.

Sie wachsen –

und können sich lichten –

durch Vergegenwärtigung.

Alle Erscheinung, alles sinnlich Auftretende, ist von Rätselcharakter durchzogen.

In dem Empfindungsbild, das sinnlich erfahrene Gegenwart in der Erinnerung annimmt, wird das Rätsel zum Gefühl.

In dem Erinnerungsgefühl, aus der die Vergegenwärtigung möglich wird, bildet sich ein zarter Keim. Er ist empfindlich für alle inneren und äußeren Geschehnisse, die zu ihm gehören, vor allem für menschliche.

In der Zugehörigkeit, die aus dieser Verbindung wächst, höre ich einen goldenen Ton in dem zarten Rosa der Scheu vor der Gegenwart von Menschen.

Bodo von Plato


Zarter Wille

Oper Oslo. Der Architekt stand vor uns und erzählte von Gestaltung, die unter der Haut zu suchen ist. Ich hörte es und war sofort ganz wach. Er sagte: Wenn man es tut, dann spürt man es, wenn es da ist. Man muss eine Intimität schaffen, und man braucht eine Gruppe, man kann es nicht alleine tun. Er erzählte von dem Carrara-Marmor, wie er klingt, ganz hell, und noch weiterlebt, von den Klängen, die sich an den Oberflächen brechen, von den Begegnungen des Gebäudes mit Luft und Wasser, vom Sprechen der Materialien und dass man sie so einfach wie möglich halten müsse, vom nachempfundenen Tageslicht, vom Eichenholz, von den Künsten, die die Architektur durchdringen, den Künstlern, die mitschaffen, von den analogen und digitalen Entwurfsprozessen. Er sprach von der Verlangsamung, die er in den Bauten schaffen wolle, von der Konsequenz des monolithischen Goetheanumbaus, wie beeindruckt er davon sei. Ich fragte ihn, ob er mir das aufzeichnen könne mit dem ‹Unter-die-Haut-Gehen›. Er zeichnete in mein kleines, dunkelblaues Buch, zeigte mir ein Diagramm, seine Suche am Horizont, über dem die Sonne aufsteigt und wieder untergeht, die Verankerung im Jetzt und das Hineingespanntsein in Raum und Zeit, in Vergangenheit und Zukunft, in sichtbare und unsichtbare Kräfte. Und er führte über die schräg verlaufende Marmorlandschaft bis an das Ende des Daches hinauf, dort, wo der Himmel angrenzte. Zarter Wille?

Elke Schmitter

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