Wohin führt der Transhumanismus?

Im September 2022 fand das sechste Kolloquium ‹Technik und Transhumanismus› der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum statt. Grundlage der Arbeit war ein Vortrag Rudolf Steiners1, in dem von einem «Zusammenspannen» der Menschenkraft mit der Maschinenkraft die Rede ist, von einer «Zusammenschmiedung» von Menschenwesen und Maschinenwesen, vom «Zusammenführen des Menschen mit dem Mechanismus».


Rudolf Steiner hört sich in diesen Zitaten erstaunlich prophetisch an und klingt bei erster Lesung wie ein Transhumanist. Doch sind seine Schau und auch sein konstruktives Warnen und seine weiterführenden, lösenden Hinweise ganz anders gemeint, als es die heute kursierenden Vorstellungen der industriellen ‹Menschheitsverbesserer› nahelegen. Steiner sah mitten im ersten technologisch geführten Krieg vor über 100 Jahren voraus, dass die drei Ideale des westlichen Okkultismus – Gott, Freiheit (Tugend) und Unsterblichkeit – sich in ihre Zerrbilder Gold (Reichtum), unzerstörbare Gesundheit und unbegrenzte Fortdauer der körperlichen Existenz verwandeln werden, insofern sie in die Gewalt egoistisch okkult strebender Gruppen geraten. Unter diesen mag man heute alle manipulativ und unter Umgehung des wachen Entscheidungsvermögens der Menschen arbeitenden, allein nach Wert- oder Profitmaximierung strebenden Geschäftsunternehmen zum Beispiel der digitalisierten Industriezweige verstehen. Nimmt man zur Kenntnis, dass die fünf größten markt- und weltbeherrschenden Firmen dieser Art: Apple (2418 Mrd.), Microsoft (1774 Mrd.), Google/Alphabet (1291 Mrd.), Amazon (1159 Mrd.) und Facebook/Meta (377 Mrd., notabene nach 58% Wertverlust im Jahre 2022) mit 7019 Milliarden USD gemeinsam mehr Wirtschaftskraft oder Marktwert auf sich vereinen als die führenden Industrienationen Japan (4850 Mrd.) oder Deutschland (3700 Mrd.), wird ihre reale, weltliche Macht erkennbar. Apple allein repräsentiert eine Wirtschaftskraft, die ungefähr dem Bruttoinlandprodukt Frankreichs (2580 Mrd.), der siebtplatzierten Industrienation der Erde, entspricht. Diese Spitzenfirmen der digitalen Industrie sind nicht demokratisch legitimiert, werden nicht durch Parlamente reguliert, handeln privat mit einer großen Produktmacht und weitgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme. Sie sind beredte Beispiele der von Rudolf Steiner bezeichneten egoistischen Gruppeninteressen.

Aus der Arbeit im Kolloquium ergab sich des Weiteren, dass die im Transhumanismus verwirklichten Bestrebungen allesamt nichts anderes sind als ein materialistisches Zerrbild dessen, was in der Anthroposophie als zukünftige Zivilisationskraft beschrieben wird. Das lässt sich an den folgenden sieben hauptsächlichen Bestrebungen zeigen:

  • Transgenderismus (Überwindung des Geschlechtergegensatzes);
  • Programmatik des Enhancement (der Steigerung aller menschlichen Fähigkeiten);
  • Humanismusverwurzelung (in Vernunft, Wissenschaftlichkeit, Fortschrittsglaube und Gegenwärtigkeit);
  • Extropianismus (Umkehr der Entropie-Annahme; proaktive, forcierte Evolution);
  • Technologie-Positivismus (Einsatz modernster Technik);
  • Unsterblichkeitsstreben;
  • Körperfokus.
1. Bildschirme verschatten die Imaginationsfähigkeit. Technisch generierte Bilder verdecken die Imagination.
2. Mobile Kommunikation schwächt die Inspirationsfähigkeit. Technisch produzierte Musikkulisse überdeckt die Inspiration.
3. Virtuelle Welt – Verlust des Leibes nimmt Intuition die Basis. Leben mit dem Avatar und virtuelle Sexualität überdeckt Intuituion.
Grafik: Edwin Hübner, Medien und Pädagogik. Grundlagen einer anthroposophisch-anthropologischen Medienpädagogik. Stuttgart 2015.

Die Anthroposophie hat als eines ihrer Grundmotive seit ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Überwindung und Synthese des Gegensatzes von Immanenz und Transzendenz. Immanenz meint dabei das ‹Ergreifen des physischen Leibes durch den Geist› und Trans­zendenz das ‹Ergreifen der geistigen Welt durch den Sinnesmenschen›. In der Verlebendigung der Anthroposophie im individuellen Menschenwesen werden beide Bestrebungen auf einer höheren Ebene vereinigt, in einer auf schöpferische Weise sich stets situativ neu ereignenden Erkenntnis- und Daseinsform. Sie setzt an die Stelle der oben angeführten sieben Bestrebungen des gegenwärtigen Transhumanismus diese:

  • Überwindung des Gendergegensatzes im Verständnis karmischer Geschlechterfolgen;
  • stetiges Entwicklungsstreben in der Selbstschulung im Sinne der Schrift ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten›;
  • eigene Wendung der Humanismusverwurzelung (Vernunft- und Erfahrungsbasierung im Sinne der ‹Philosophie der Freiheit›, Wissenschaftlichkeit der anthroposophischen Geisteswissenschaft, Erneuerungs- und Fortschrittsprinzip der anthroposophischen Handlungsethik, Gegenwartsbedeutung des aktuellen, gewordenen Leibes als Garant des Selbstbewusstseins);
  • vom Menschen selbst verantwortete Entwicklung;
  • Einsatz modernster, sich immer erneuernder Bewusstseinstechniken im modernen Mysterienwesen;
  • Unsterblichkeitseigenschaft der in Karma und Reinkarnation webenden Entelechie;
  • Leibfokus (Leib verstanden als vom Ich ergriffene physisch-sinnliche, sinnenfähige Menschenform).

Es entsteht so das Bild eines unversöhnlichen Gegensatzes von Anthroposophie und herkömmlichem Transhumanismus. Als Talentmagnet zieht Letzterer begabte Menschen an sich und man mag fragen, ob diese auf der Suche nach Geistigem sind und deswegen den auf der Oberfläche täuschend ähnlichen Zielsetzungen des Transhumanismus folgen.

An den Ausführungen über das Metaversum, den geplanten gigantischen dreidimensional zu erlebenden virtuellen Raum, in dem sich in den kommenden Jahren große Teile des alltäglichen Lebens der Menschen abspielen sollen, wurde deutlich, dass die werdenden und kommenden höheren Erkenntnisfähigkeiten des Menschen konterkariert, geblendet, betäubt und gelähmt werden. Edwin Hübner fasste dies in der folgenden Grafik zusammen:

Bild: Simon Lee

Ein großer Teil der Anziehungskraft des Transhumanismus und der von ihm ausgelösten Begeisterung entstammt der praktischen Anwendung und dem unbestreitbaren Nutzen der neuen Technologien. Am Beispiel der Prothetik konnte im Kolloquium gezeigt werden, wie die rein körperlich erlebte Funktion von Prothesen in dem Moment in eine Selbst- und Leibeserfahrung umschlägt, in dem eine erweiterte Sinneserfahrung zum Beispiel über den Eigenbewegungssinn ermöglicht wird. Dies wird zunehmend möglich über die Beteiligung von muskulären Antagonisten bei Gliederprothesen oder über die Entwicklung empfindender Hautersatzmaterialien. Das Ersatzteil wird dann Teil des Leibes und adaptiert sich in das sinnliche Selbsterleben. Wird diese Entwicklungsrichtung weiterverfolgt und weitergedacht, so kann eine Fortschreibung des ‹Neo-Körpers›, der schon lange vorgestellt wird, in einen ‹künstlichen Leib› denkbar werden.


Veranstaltung Auf der Tagung ‹Das Ende des Menschen? Wege durch und aus dem Transhumanismus III› vom 24. bis 26. März 2023 werden diese Aspekte vertieft und in einen Zusammenhang mit der künstlerischen Fähigkeit des Menschen, mit seiner Bestimmung als sich selbst erschaffendes Wesen gebracht.

Titelbild Simon Lee, Twitter: @simonxxoo

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen. GA 178, Dornach 1992.

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