Wo Sprache geboren wird

Hierin liegt die große Bedeutung der Erinnerung im Übergang von der Empfindungs- zur Verstandesseele. Das Wort ‹Er-innerung› verrät, dass es um Verinnerlichung geht. Äußeres wird Inneres. Die Empfindungsseele vermag dies schon bis zu einem gewissen Grad, insofern sie eine Zeit lang innere Bilder der äußeren Welt festhält. Sonst wäre sie lediglich Empfindungsleib. Wenn draußen ein Auto steht und sich im Haus irgendwie einiges tut und dabei auch Gepäck im Spiel ist, wird meine Katze ganz unruhig. Sie hat offensichtlich innerlich ein Bild von früheren Aufbrüchen aufbewahrt, die stets zu unwillkommener Einsamkeit führten. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Katze sich hinsetzt und denkt: «Lass mich mal überlegen. Was habe ich gestern um diese Zeit gemacht?» Das ist Erinnerung auf einer vollkommen anderen Stufe. […] Es ist die Art von Erinnerung, die die Geburt von Sprache ermöglicht, sowohl in der menschheitlichen Evolution als auch in der frühkindlichen Entwicklung. In der griechischen Mythologie war Mnemosyne – die Erinnerung – die Mutter der Musen. Sowohl Sprache als auch Gedanke kann man sich in der Tat als im Hohlraum der Erinnerung erzeugt vorstellen, denn dort werden sie empfangen.


Aus Owen Barfield, The Ventricle of Memory, in Anthroposophical Quarterly 20.1, Frühjahr 1975, 10–11.

Übersetzung Margot M. Saar
Bild Speech Dnk / Unsplash

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