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Wo Europa jetzt zusammenfinden sollte

Die Regierungschefs von Österreich und Deutschland haben in den letzten Monaten das Problem der zwei Standorte des Europäischen Parlaments angesprochen. Das bietet Anlass, mit Gerald Häfner über diesen ureuropäischen Schildbürgerstreich ‹Reisezirkus Straßburg–Brüssel› zu sprechen, denn er hatte als EU-Abgeordneter (2009–2013) die Lösung dazu vorangetrieben. Das Gespräch führten Louis Defèche, Jonas Lismont und Wolfgang Held.


Warum hat die Europäische Union mehrere Sitze?

Gerald Häfner Dass das Europäische Parlament gleich drei Sitze hat und an zwei Orten physisch zusammentritt, einmal in Straßburg und einmal in Brüssel, und dass sämtliche Abgeordnete, gefolgt von Mitarbeitern, Beamten, Dolmetschern, Stenografen, Journalisten und (leider auch) Lobbyisten, 24-mal im Jahr ihre Koffer und Kisten packen, um von Straßburg nach Brüssel und dann von Brüssel wieder nach Straßburg zu fahren, versteht eigentlich kein rational denkender Mensch. Das ist einer der vielen blinden Flecken der Politik, wo aus einem Provisorium, einem faulen Kompromiss, unvermerkt ein scheinbar unverrückbares Faktum wird. Rechtfertigen lässt sich der Aufwand dieses permanenten Umzugs sowie des Baus und Unterhalts zweier gewaltiger Parlamentskomplexe nicht. Aber erklären, wie es dazu kam, kann man schon.

Wie kam es dazu?

Zu Beginn, also bei der ersten Vorform der heutigen EU, der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), hatte man sich auf Luxemburg als Sitz geeinigt. Das kleinste Land zog den dicksten Fisch an Land, weil man das Signal des Gewinns eines großen vermeiden wollte. Seither hat die Verwaltung ihren Sitz in Luxemburg. Doch für einen Plenarsaal gab es in Luxemburg nicht genug Platz. Also begann man nach Straßburg zu reisen, denn dort standen die Versammlungsräume des Europarates zur Verfügung. Doch auch die reichten eines Tages nicht mehr aus. Schließlich gelang es Belgien, den EU-Rat und die EU-Kommission nach Brüssel zu holen. Und in einer eigentlich inakzeptablen Verknüpfung politischer, wirtschaftlicher und privater Interessen erwarb ein enger Angehöriger des belgischen Vertreters bei den Verhandlungen im Rat ganze Straßenzüge in Brüssel und erstellte dort ein Kongress­zentrum mit Plenarsaal und Sitzungsräumen. Dies entsprach, als das Europäische Parlament größere Räume brauchte, ganz zufällig exakt dessen Bedürfnissen – und so kam auch das Parlament nach Brüssel.

Da protestierte Frankreich

Natürlich. Und auch Luxemburg. Die wollten sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Also wurde auch in Straßburg ein riesiger, hochmoderner Parlamentskomplex gebaut und feierlich eröffnet. 1999 wurde der permanente Kompromiss dann in Verträge gegossen. Alle waren sich einig. Seitdem gilt offiziell: Das Parlament hat drei Sitze: die Verwaltung und Direktion in Luxemburg, das Plenum in Straßburg und die Ausschüsse und Fraktionen in Brüssel. Das ist natürlich absurd, weil man insbesondere Ausschüsse, Fraktionen und Plenum gar nicht trennen kann. Das bedeutet nun, dass das Parlament regelmäßig umziehen muss. Die Franzosen haben sich sogar die Anzahl der Plenarsitzungen in den Vertrag schreiben lassen. Jedes Mal wird das ganze Büro in riesige Kisten verpackt und ca. 4000 Menschen machen sich auf die Reise. Die reinen Sachkosten dafür schätze ich auf ca. 120 Mio. Euro jährlich – rechnet man etwa auch die Zeit- und die Umweltbelastung, kommt man auf ganz andere Beträge. Außerdem müssen so zwei voll ausgestattete Parlamentsgebäude ganzjährig unterhalten und geheizt werden – wobei z. B. dasjenige in Straßburg an 300 Tagen im Jahr leer steht.

EU-Parlament in Brüssel und in Straßburg (Foto: Edda Dietrich)

2014 ging durch die Medien, dass das auf deinen Vorschlag hin geändert werden sollte. Wie ist das entstanden?

Als ich ins Parlament kam, hatte ich mir – neben manchem anderen – vorgenommen, diesen parlamentarischen Wanderzirkus zu beenden. Man sollte ja meinen, das Parlament sei hier längst tätig geworden. Das war aber nicht der Fall. Im Gegenteil! Ich stieß auf heftigste Ablehnung. «Hör auf!», hieß es allenthalben. «Davon reden wir nicht! Dieses Thema nutzt nur den Antieuropäern!» Nicht das Thema, erwiderte ich, der Zustand nutzt den Antieuropäern. Und unsere Untätigkeit. Deshalb müssen wir uns endlich darum kümmern! «Das können wir nicht», war die Antwort. «Das haben die Staats- und Regierungschefs entschieden. Und es steht im EU-Vertrag. Dem Parlament sind da die Hände gebunden!»

Deine Kollegen im Parlament wollten also gar nichts ändern?

So würde ich das nicht formulieren. Alle leiden unter diesem Wanderzirkus. Sie hatten sich aber daran gewöhnt und hielten jede Änderung für unmöglich: So wurde daraus ein Tabu. Der von mir vorgeschlagene Weg war neu und ungewohnt. Und es war klar: Er ging über mehrere Schritte, würde also Zeit brauchen. Doch er gab dem Parlament seine Handlungsfähigkeit zurück. Der Weg dorthin ging über das europäische Vertrags- und Verfassungsrecht. Ich argumentierte: Durch den letzten EU-Vertrag sind die Rechte des Parlaments gestärkt worden. Es ist seither auch explizit Organ der (Mit-)Gesetzgebung, also dem Rat und der Kommission sowie den (nationalen) Regierungen nicht mehr unterstellt, sondern auf Augenhöhe mit diesen. Daraus folge zwingend die Anerkennung des Selbstorganisationsrechts des Parlamentes.

Dieser Schritt ist verfassungsrechtlich entscheidend. Er beschreibt einen für ganz Europa unhintergehbaren Wendepunkt. In Deutschland zum Beispiel steht über dem Parlamentsgebäude ‹Dem deutschen Volke›. Warum? Die 1916 (übrigens sehr zum Ärger von Kaiser Wilhelm II.) angebrachte Inschrift sollte dokumentieren, wem sein Vorgänger Wilhelm I. dieses 1871 geplante Gebäude einstmals gnädig gewidmet hatte: ‹Seinem› Volke. Denn noch war der Kaiser der Souverän. Doch mit der Revolution 1918 kehrten sich die Verhältnisse grundlegend um. Der Kaiser ist Geschichte – und alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das hat unmittelbare Folgen: Wie, wann, wo und wozu es tagt, das bestimmt das Parlament selbst. Es ist jetzt nicht mehr anderen, exekutiven Organen unterstellt. In einer europäischen Demokratie kann das einzige von den Bürgern direkt gewählte Organ nicht als weisungsgebundene Behörde der im Rat versammelten Regierungen fungieren. Es muss vielmehr selbst für seinen Tagungsplan, seine Geschäftsordnung, seine Arbeitsweise verantwortlich sein. So die inhaltliche, aus dem europäischen Vertrags- und Verfassungsrecht abgeleitete Argumentation meines Antrages.

Strategisch bestand das Neue dieses Vorschlages darin, erstmals das noch weitgehend unbekannte, aber im EU-Vertrag rudimentär veranlagte Initiativrecht des Parlaments zu nutzen. Es war also ein Dreischritt: Wir nutzten das Initiativrecht des Parlaments, um dessen Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen, damit es am Ende selbst über seinen Sitz entscheiden kann.

Welche Schritte folgten?

Erst galt es, die Kollegen im Verfassungsausschuss zu überzeugen. Das gelang. So erhielt ich, gemeinsam mit einem konservativen Kollegen, einstimmig den Auftrag, einen entsprechenden ‹Bericht› auszuarbeiten, also eine Vorlage für das Parlament zu erstellen. Das Präsidium (besonders Martin Schulz) und das ‹Bureau› wussten das über zwei Jahre zu verhindern. Sie fürchteten den Konflikt mit den Staats- und Regierungschefs. Doch ich hatte längst begonnen, parallel mit den Regierungen zu sprechen. Das war ausgesprochen interessant. Denn neben Belgien, Luxemburg und vor allem Frankreich (die ja direkt betroffen waren) waren alle, mit denen ich sprechen konnte, für eine Veränderung offen. Sie selbst würden allerdings einen entsprechenden Antrag nicht stellen können. Wenn aber das Parlament selbst tätig werde, entstünde eine neue Situation.

Zwischendurch probierten wir auch andere Schritte. Zum Beispiel legten wir zwei Straßburger Sitzungsperioden zusammen, um wenigstens eine Reise sparen zu können. Doch Frankreich klagte und gewann vor Gericht. So war klar: Nur die große Lösung hatte Aussicht auf Erfolg.

Warum kommt jetzt Bewegung in die Sache?

Nach Gesprächen mit Mitgliedern aller Fraktionen konnte ich 2014 eine Debatte und Abstimmung über diesen Bericht durchsetzen. Das Parlament hat dabei mit einer überwältigenden Mehrheit für die Wahrnehmung und Durchsetzung seines Selbstorganisationsrechts sowie für die Beschränkung auf einen Sitz gestimmt. Seither liegt der Beschluss des Parlamentes beim Rat. Der aber kann nur einstimmig entscheiden. Bislang hat Frankreich jede Befassung blockiert. Und ohne Frankreich kann der Rat nicht handeln. Jetzt aber kommt Spannung in die Sache. Nicht nur wegen der Vorstöße aus Deutschland und Österreich, sondern vor allem, weil der französische Präsident zu einer grundlegenden Reform der EU aufruft. Da meine ich: Wenn Emmanuel Macron wirklich eine Reform der Europäischen Union will, dann sollte er das hier beweisen. ‹Reform› kann ja nicht nur neues Geld und neue Institutionen bedeuten, sondern vor allem auch die Bereitschaft, sich von überkommenen Besitzständen und Gewohnheiten zu lösen und einen Schritt hin zu mehr Demokratie und einer klareren Gliederung der Gewalten zu machen. Forderungen an andere sind doppelt überzeugend, wenn man auch selbst zu Veränderungen bereit ist.

Zum Schluss: Wenn du frei bestimmen könntest, was wäre deines Erachtens die richtige Hauptstadt Europas?

Das kommt darauf an. Straßburg, die Stadt von Tauler und Oberlin, Goethe und Herder, Brückenstadt, Zeugin des Krieges und Ort der Versöhnung, verbindet Mittel- und Westeuropa, deutsche und französische Kultur und Geschichte. Bis 1990 gab es wohl keinen besseren Ort.

Doch mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs hat sich das geändert. Zehn neue Staaten sind dazugekommen, aber in der Verteilung von Einrichtungen und Institutionen hat sich das nicht niedergeschlagen. Die bleiben fast vollständig im Westen: Straßburg, Frankfurt, Luxemburg, Brüssel, Den Haag … Es klingt im Moment vielleicht wenig realistisch, aber ich finde, die Hauptstadt Europas sollte mehr in seiner Mitte liegen, wo sich Ost, Mitte und West durchdringen und wo Europas unsichtbares Herz schlägt. Also zum Beispiel in Prag.

Aber ich muss auch ehrlich hinzufügen: Würde man heute im Parlament abstimmen, wäre der Reisezirkus schlagartig beendet. Aber die Mehrheit würde sich für Brüssel entscheiden, wo auch Rat und Kommission ihren Sitz haben. Nicht aus Überzeugung – so gut wie niemand hält Brüssel für die beste Wahl –, sondern wegen der normativen Kraft des Faktischen.

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