Wird Europa aufwachen?

Ein renommierter Journalist hat am 8. Februar 2023 einen Artikel veröffentlicht, in dem er laut einer von ihm geheim gehaltenen Quelle darlegt, wie die Nord-Stream-Pipelines auf Befehl der us-Regierung gesprengt worden seien. Wer auch immer dies durchgeführt hat, eine solche Industriesabotage stellt einen kriminellen Akt dar, der sich gegen Europa richtet. Während der Krieg seit einem Jahr tobt, geben die Fragen rund um die Gaspipelines die Gelegenheit, erneut darüber nachzudenken, was in dieser furchtbaren Auseinandersetzung auf dem Spiel steht.


Die Darstellung des amerikanischen Enthüllungsjournalisten und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh über die Sabotage der Gaspipelines Nord Stream 1 und 21 wurde von den US-Behörden bestritten. Die europäische Diplomatie schien sie nicht ernst zu nehmen. Die Leitmedien in Europa warfen Hersh vor, sich nur auf eine einzige geheime Quelle zu stützen und Verschwörungstheorien zu nähren. Die ‹Zeit› bezeichnet seine Enthüllungen als «wenig glaubwürdig»2, während die ‹Süddeutsche Zeitung› nicht an «eine ursprünglich gegen Deutschland und dessen Energieinteressen gerichtete Geheimaktion innerhalb des Nato-Bündnisses» glauben kann.3 Ist das wirklich so unglaubwürdig?

Europäische Souveränität

Eines war bereits sicher: Es handelte sich um vorsätzliche Sabotage.4 Zugegeben, die Behauptungen von Seymour Hersh können nicht für bare Münze genommen werden, da sie sich auf einen einzigen Zeugen stützen, der – aus offensichtlichen Gründen des Quellenschutzes – anonym bleibt. Auch wenn es keine eindeutigen Beweise gibt, bleibt es möglich, sich ein Bild davon zu machen, was rund um diese Gaspipelines auf dem Spiel steht, indem man den politischen und geopolitischen Kontext zusammenstellt.

Unmittelbar nach den Anschlägen auf die Gaspipelines twitterte der polnische Europaabgeordnete Radek Sikorski: «Thank you, USA.» In der Tat standen die USA an der Spitze der Gegner dieser Pipelines, gegen die sie schon seit einigen Jahren lautstark kämpften. Sobald er ins Weiße Haus einzog, forderte der aktuelle US-Präsident mehrmals mit Nachdruck, das Projekt aufzugeben, was zu zahlreichen Turbulenzen in den diplomatischen Beziehungen mit dem deutschen Kanzleramt führte. Anfang Februar 2022 erklärte er schließlich, dass wenn Russland die Ukraine angreift, «es kein Nord Stream 2 mehr geben wird. Wir werden dem ein Ende setzen.»5

Auch Donald Trump hatte sich klar gegen die Pipeline ausgesprochen. Bereits 2019 wurden US-Sanktionen gegen das Projekt verhängt, die den Baufortschritt behinderten und zu heftigen Reaktionen in Deutschland führten. Viele Stimmen in Europa prangerten daraufhin eine eklatante Verletzung der europäischen Souveränität durch die USA an.6

Eine bestimmte Geopolitik

Der hartnäckige Widerstand gegen das Pipeline­ Projekt geht also in den USA über die politischen Lager hinaus. Hier lohnt es sich, an alte geopolitische Auffassungen aus dem frühen 20. Jahrhundert zu erinnern, die auf der ‹Heartland›-Theorie von Halford Mackinder und später Nicholas Spykman basieren und sich beispielsweise hintergründig in den Ideen von Zbigniew Brzeziński im 21. Jahrhundert wiederfinden. Nach diesen Auffassungen bildet das ‹Heartland›, in dem Russland geografisch liegt, das Herzstück des eurasischen ‹Superkontinents›, zu dem Europa auch gehört. Dieser eurasische Superkontinent besitzt, wenn er sich vereinigt, das Potenzial, die angloamerikanische ‹Seemacht› zu überholen. Deshalb sagte 2015 der US-amerikanische Geostratege Georg Friedman: «Deutsches Kapital, deutsche Technologie und russische Bodenschätze, russische Arbeitskräfte, das ist die einzige Kombination, die die USA seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzt.»7

Rohre für Nord Stream 2 in Mukran. Foto: Gerd Fahrenhorst (CC 4.0)

Daraus leitet sich die amerikanischen Strategie des Containment ab, um zu verhindern, dass eine Allianz zwischen Mitteleuropa und Russland auf Kosten der angloamerikanischen Hegemonie entsteht, die damit ihren Status als Weltmacht verlieren würde. Die angloamerikanische Vorherrschaft wird in diesen Vorstellungen als inhärent ‹gut› angesehen, da sie unerlässlich wäre, um eine globale Anarchie zu verhindern und die Werte der Demokratie zu verteidigen. In dieser amerikanisch-zentrierten Auffassung bildet die Ukraine ein Schlüssel der Containment-Politik. Und es ist gerade die Ukraine, die durch das Nord-Stream-Projekt umgangen werden konnte, indem es Russland direkt mit Mitteleuropa verbindet. Aus dieser us-Perspektive kann eine Intervention zum Zweck des Containment – selbst die Sabotage einer Gaspipeline zum Beispiel – als ‹allgemeines Interesse› betrachtet werden. Dabei spielt die Souveränität der ‹Freunde› weniger eine Rolle. Ein Paternalismus, der sich durch die Kolonialgeschichte des Westens zieht.

Weitere Expertenstimmen

Seymour Hersh war nicht der Einzige, der die These einer amerikanischen Sabotage aufstellte. Bereits vor der Veröffentlichung seines Artikels hatten andere Experten ihre Überzeugung – oder ihren starken Verdacht – geäußert, dass die USA für die Sabotage verantwortlich seien, zum Beispiel der berühmte Ökonom Jeffrey Sachs8 oder der Schweizer Ex-Oberst Jacques Baud9. Trotz ihrer seriösen Karriere als Fachleute und ihrer Kenntnisse der globalen Geopolitik wurden beide von Leitmedien als ‹Verschwörungstheoretiker› bezeichnet.

Anfang Januar erklärte auch der französische Anthropologe und Demograf Emmanuel Todd, insbesondere bekannt für seine Vorhersage des Untergangs der UDSSR, dass die US-Regierung für die Sabotage verantwortlich sei.10 Sein neuestes Buch, ‹Der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen›, wurde gerade in Japan veröffentlicht und ist bereits ein Bestseller. Todd stützt seine Perspektive auf eine demografische, soziologische und geopolitische Analyse. Aus seiner Sicht ist dieser Krieg für die USA ebenso existenziell wie für Russland. Daher befinden wir uns in einer viel gefährlicheren Situation, als wir glauben wollen. Angesichts dieser Sackgasse will er die Deutschen ermutigen: «Die Seite des Guten […] ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden.»

Was kann Europa tun?

Den Krieg beenden. Dazu ruft auch das ‹Friedensmanifest›11 von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht auf, das auch von dem Sänger Reinhard Mey und bisher von mehr als einer halben Million Menschen unterzeichnet wurde. In ihrem ‹Aufstand für Frieden› rufen auch die beiden Aktivistinnen zu einer großen Friedensdemonstration am 25. Februar in Berlin auf.12

Selbst wenn es keine Beweise gibt, selbst wenn es einem prägenden westlichen Narrativ widerspricht, scheinen die Aussagen von Seymour Hersh doch glaubwürdig. Und diese Hypothese führt zu der Frage nach der europäischen Souveränität. Es wirft auch ein Licht auf einen Krieg, der weder im Interesse Europas noch der Welt und schon gar nicht im Interesse der Ukraine ist. Was kann ein souveränes Europa besser tun, als aufzuwachen, endlich Nein zu einer militärischen Eskalation zu sagen und all seine Kräfte für Friedensverhandlungen einzusetzen?


Grafik Sofia Lismont

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Footnotes

  1. Seymour Hersh, ‹How america took out the Nord Stream pipeline›, 19. February 2023
  2. Carsten Luther, ‹Sprengsätze aus Überzeugung›, Zeit Online, 10. Februar 2023.
  3. Stefan Kornelius, ‹Seymour Hersh, Abgeglittener Ex-Star des investigativen Journalismus›
  4. ‹Schweden zu Nord Stream: Staatsanwaltschaft bestätigt Sabotage als Ursache für Explosionen›, Spiegel, 18. November 2022.
  5. ‹Joe Biden: Russischer Einmarsch in Ukraine würde laut US-Präsident das Aus für Nord Stream 2 bedeuten›, Spiegel, 19. Februar 2023.
  6. Faustine Vincent et Nabil Wakim, ‹Nord Stream 2 : les États-Unis accentuent les sanctions contre le gazoduc›, Le Monde, 5. Januar 2021.
  7. Chicago Council on Global Affairs
  8. UK U-turn | Bloomberg Surveillance 10/03/2022
  9. Jacques Baud, ‹Neutralisierung von Nord Stream – Schwerpunkt amerikanischer Außenpolitik›, Zeitgeschehen im Fokus, n. d.
  10. Jürg Altwegg, ‹In diesem Krieg geht es um Deutschland›, Die Weltwoche, 17. Februar 2023.
  11. ‹Manifest für Frieden›
  12. Aufstand für Frieden

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