Windows of Opportunity: Fenster des Friedens

Ein Gespräch mit dem Konflikt- und Friedensforscher und Mediator Friedrich Glasl zum Jahrestag des Angriffskrieges in der Ukraine. Das Gespräch führte Wolfgang Held.


Jetzt jährt sich der Angriff Russlands gegen die Ukraine und der Krieg, das Sterben halten an. Was ist Ihr aktuelles Resümee?

Friedrich Glasl Wo bleibt die Diplomatie? Es ist zum Haare­raufen! Es wird allein in militärischer Logik gedacht. Ich spreche der Ukraine absolut nicht das Recht ab, sich zu verteidigen, und appelliere doch an die Alternative, die es gibt. Dass die Weltgesellschaft diesem Töten und Sterben so zuschaut, es geschehen lässt, ist unfassbar. So viele Länder sind ja abgesehen von den ethischen und moralischen Fragen als Stakeholder vielfach involviert, betroffen. Der Konflikt flimmert nicht nur in unsere Wohnzimmer, wir alle sind weltweit auch wirtschaftlich, sozial, politisch und ökologisch betroffen. Er wirkt sich auf die ganze Welt aus. Die Einengung des Blicks, die Verkürzung des Zeithorizonts ist deshalb so schwer begreifbar. Wir folgen den Nachrichten, wer wo einen kleinen militärischen Sieg errungen hat, wo jetzt das ‹Z› und wo man wieder ‹blau-gelb› sieht. Es ist wie in einem Kriegsfilm – mit dem Unterschied, dass es nicht Fiktion ist, sondern Wirklichkeit.

Woran liegt es, dass es nicht gelingt, in die Diplomatie einzusteigen?

Es sind viele Länder beteiligt, haben ein Verhältnis zu der einen oder anderen kriegführenden Partei und müssen fürchten, dass sie als unparteiliche, neutrale Seite nicht ernst genommen werden. So zum Beispiel Österreich: Es ist völkerrechtlich neutral, hat sich aber mit den Sanktionen der EU solidarisch erklärt. Das hat zur Folge, dass das Land bei Gesprächsversuchen abblitzt. Ich habe auch erlebt, dass Politikerinnen und Politiker, nachdem sie einmal oder zweimal erfolglos aus Moskau, Washington, Brüssel oder Kiew zurückgekehrt sind, um ihr Prestige fürchten. Ich erinnere mich an die Häme, die die internationale Presse über den österreichischen Bundeskanzler Nehammer ausschüttete. Er war ja nach Moskau gereist, hatte Putin in seiner Datscha besucht und kehrte erfolglos zurück. Gleichwohl war ich damals froh über seine Initiative, weil man nichts unversucht lassen sollte. Und jetzt? Ich glaube, wir haben uns an die Bilder gewöhnt, daran gewöhnt, dass alle auf militärische Entscheidung setzen, dass fortwährend die Drohkulisse aufgerichtet wird, man dürfe keinen Keil in die westliche Allianz treiben. Sobald jetzt ein EU-Mitglied mit einem eigenen Impuls aktiv wird, setzt es sich dem Vorwurf aus, sich nicht abzustimmen.

In der Schuldfrage des Krieges werden immer wieder die gegenseitigen Vertragsbrüche zwischen Russland und dem Westen erwähnt.

Ja, so wird häufig angezweifelt, dass es ein mündliches Versprechen gab, keine NATO-Osterweiterung zuzulassen, ohne Zustimmung Russlands. Es gibt genügend Zeugnisse, dass es mündliche Zusagen gab, aber nichts vertraglich festgelegt wurde. Das weiß ich auch aus diplomatischen Kreisen. Das hat das Ende des Kalten Krieges begründet. Die Lager, die Feindbilder lösten sich auf, es gab sogar Kooperationen. Denken wir an die Partnerschaft für den Frieden und an all die Verträge wie Open Skies oder eben das Budapester Memorandum von 1994, mit dem die vormaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion Moskau das Verfügungsrecht über die Atomwaffen geben, dafür aber Sicherheitsgarantien von Russland und vom Westen bekommen. Schon ab 1991 beginnt die Eskalation, als sich die Ukraine mit der Auflösung der Sowjetunion gegen den Führungsanspruch von Moskau wendet. So war die Ukraine auch kein Mitglied des Comecon, des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die Ukraine war nur assoziiert. Die Ukraine suchte Souveränität und näherte sich dem Westen an.

Mit den Protesten auf dem Maidanplatz eskalierte es dann. Kam der Protest aus dem Land oder war er westlich inszeniert?

Es spricht vieles für eine Inszenierung. Ich berufe mich dabei auf einen Schweizer Diplomaten, mit dem ich befreundet bin. Es gab Hinweise, dass Scharfschützen eingesetzt wurden, um die Situation gewaltsam eskalieren zu lassen. Ich denke, ohne die Schützenhilfe des Westens wäre das ganze rechtspopulistische Lager vielleicht nicht so an die Macht gekommen und der Putsch wäre nicht so gelungen. Dann folgten verhängnisvolle Entscheidungen wie das Abschaffen von Russisch als Amtssprache und das nicht anerkannte Referendum in der Krim. Das hat die Polarisierung auf beiden Seiten vertieft, wobei ein Nato-Beitritt damals kein Thema war. Die Ukraine war mit den Garantien durch das Budapester Abkommen neutralisiert. Der Wunsch, in die Nato zu kommen, entstand erst mit der Wahl Selenskyjs zum Präsidenten. Interessant war, dass Präsident Selenskyj nach dem 24. Februar sagte, dass man sich nicht an einen Nato-Beitritt klammere. Sowohl Selenskyj als auch Moskau hatten die Neutralität eingebracht! Ich sage bewusst nicht Putin, sondern Moskau, weil es ein System ist. Wäre Putin weg, dann kämen zehn andere Putins, andere Scharfmacher. Seit 2014 herrscht in der Ostukraine Krieg, nicht erst seit letztem Februar. 2015 handelten Hollande, Merkel und Putin mit dem Minsk-II-Abkommen, dem Normandie-Format, diesen Vertrag aus, bei dem die zwei Provinzen vergleichbar dem Schweizer Modell eine Art kantonale Autonomie erhalten sollten im Zuge einer Verfassungsreform.

Friedrich Glasl

Wenn diese Kompromissbereitschaft nicht da ist, dann entsteht heutzutage eine Zerstörung, die apokalyptisch ist.

Ja, ich meine, dass sich unser Planet auf eine existenzielle Gefährdung zubewegt. Was an Maßnahmen unternommen worden ist, um Treibhausgase einzudämmen, ist durch den Krieg zunichte gemacht worden.

1986 war es Michail Gorbatschow, der auf den Westen zuging.

Ich betrachte das noch immer als ein Wunder des Jahrhunderts. So wie die Apartheid mit Nelson Mandela gewaltfrei überwunden wurde oder die DDR ohne kämpferische Handlungen zu Ende ging, so fiel der Graben zwischen Ost und West durch Gorbatschows Schritte. Sie führten 1987 zum Durchbruch bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sagte im Interview: «Wer Frieden will, muss Risiko wollen.»

Ja, Gorbatschow ging einzelne Schritte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das machte die Verhandlungen in Reykjavík im Oktober 1986 erst möglich. Es sei ein Treffen von Mensch zu Mensch gewesen, sagt Ronald Reagan, der damalige us-Präsident. Das geschah auch deshalb, weil die Zivilgesellschaft nicht schwieg, sondern mit brennenden Kerzen und Menschenketten gegen Atomwaffen demonstrierte. Von Gandhi bis zum Protest gegen den Vietnamkrieg gab es eine Bürgerrechtsbewegung und zivilgesellschaftliche Veränderungsbereitschaft. Die suchen wir jetzt vergebens, genauso wie Anfang des Jahrhunderts die Bereitschaft, Russlands Zustimmung zur Nato-Osterweiterung weiter einzubeziehen. Als sich Tschechien, Polen und Ungarn der Nato anschlossen, wurde Russland konsultiert. Bei den baltischen Republiken war das nicht mehr der Fall. Man erinnere sich an Putins Protest 2007 an der Münchener Sicherheitskonferenz. Es geht nicht darum, die Osterweiterung der Nato generell auszuschließen, sondern nur darum, die Sicherheitsinteressen Russlands im Auge zu behalten, was auch für Abschussrampen für Langstreckenraketen an der russischen Grenze gilt.

Bei der Nato-Konferenz im März 2007 in Bukarest wurden dann die Ukraine und Georgien eingeladen. Daraufhin gab es diesen Schuss vor den Bug vonseiten Russlands, den Überfall auf Georgien auf Südossetien. Diese Region ist ja heute noch besetzt und es gibt dort heute noch ein OSZE-Monitoring. Ich kenne die Gegend sehr gut und auch die dortige OSZE-Arbeit. 2008 ging es so weit, dass russische Flugzeuge bis nach Tiflis flogen und zeigten, dass sie den Flughafen bombardieren könnten, was nicht geschah. Das Verhältnis von Osten und Westen erodiert immer weiter. Was zaghaft entstanden ist – dass wir Sorgen, Probleme miteinander teilen und nicht gegeneinander lösen müssen –, das trat in den Hintergrund. Außerdem spielt es für mich eine Rolle, dass China eine Führungsposition anstrebt, auch mit seiner Währung als internationales Zahlungsmittel, dass es in Afrika Landgrabbing betreibt und sich in Südamerika Ressourcen sichert. Die Position der USA erscheint immer mehr gefährdet.

Russlands Interessen wurden zu wenig berücksichtigt. Wenn das Land aber zur Gewalt greift, verliert es da nicht jede Legitimation?

Natürlich. Mit dem Angriff auf die Ukraine ist alles anders und auch Russland hat ja Vertragsbruch begangen.

Herfried Münkler beschreibt verschiedene Interessen. Für die EU wären bei einem Friedensschluss die Grenzen von 2014/15 akzeptabel, mit einem Donbass unter russischer Verwaltung. Demgegenüber läge im Interesse der USA ein längerfristiger, aufzehrender Krieg, bei dem Russland seine militärische Macht einbüßt und die USA sich auf China konzentrieren können.

Tatsächlich sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Fortsetzung des Krieges von Kiew, Moskau, Washington und Brüssel gewollt wird. Damit meine ich nicht die EU, sondern die Nato. Es wird keine Alternative in der Diplomatie gesucht, weil sich die kriegführenden Parteien festgelegt haben. Und doch gibt es immer wieder Möglichkeiten, aus der Kriegslogik in eine Friedenslogik zu kommen. Ich spreche immer wieder von ‹Windows of Opportunity›, die sich für kurze Zeit öffnen. Wenn man die nicht nutzt, dann geht das Fenster wieder zu, aber es öffnen sich neue! So wie zum Beispiel bei den Vereinbarungen, Getreide aus den ukrainischen Häfen zu verschiffen. Das hätte noch viel mehr genutzt werden können. Da waren die Interessen nicht so weit auseinander. Es gelang ein Miteinander, weil alle Interessen berücksichtigt wurden und nicht nur jene der Ukraine. Die UNO und die Türkei bzw. Erdogan haben da viel erreicht.

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben die Petition ‹Manifest für den Frieden› veröffentlicht und 600 000 Menschen haben unterzeichnet. Wir beurteilen Sie die Initiative?

Endlich gibt es eine Initiative, die aus der Kriegslogik ausbricht und sich für einen diplomatischen Weg starkmacht. Es müsste mehr dieser Initiativen geben, viel mehr. Deren Botschaft ist: Wir lassen uns nicht einreden, dass es nur eine militärische Lösung für den Ost-West-Konflikt gibt, der jetzt auf ukrainischem Territorium ausgetragen wird. Es gab darüber leider auch die Debatte, ob sich rechte Gruppierungen der Petition anschließen dürften und Ähnliches. Was soll dieses Exklusivitätsdenken? Entscheidend ist, dass sich Menschen – welcher Denkrichtung sie auch sonst anhängen – für ein Ende des Schlachtens einsetzen und sich an ihre Regierungen wenden. – So gab es zum Wochenende vom 17./19. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Ankündigung der chinesischen Regierung, am 24. Februar einen Plan zur Vermittlung vorzulegen. Der hatte sofort Kommentare maßgeblicher Politiker und Politikerinnen im Sinne der Kriegslogik zur Folge: «Das kann nichts Seriöses sein! Das ist hinterhältig und dient den Interessen Chinas und Russlands! China will damit nur in der Welt Unterstützer gewinnen! Und wenn der Plan abgelehnt wird, gibt Moskau dem Westen die Schuld!» Das ist ein ‹Window of opportunity›, das genutzt werden muss, damit ein Ende des Krieges denkbar wird. Wichtig ist, dass es überhaupt zu Gesprächen kommt – man kann nicht Ergebnisse zur Bedingung machen.

Sehen Sie künftige Fenster?

Es gab eine Reihe von geöffneten Fenstern, die dann wieder zugefallen oder zugeschlagen wurden. Man kann nur schauen, was jetzt ist. Demnächst gebe ich ein Seminar über ‹Windows of Opportunity›, bei dem ich mit den Menschen übe, solche Fenster zu sehen und zu ergreifen: Was wäre hier möglich gewesen, nicht im Sinne der Kriegslogik, sondern einer Friedenslogik? Gegenwärtig findet eine gegenseitige Dämonisierung der Sprache statt. Auch da müssen wir herauskommen.

Wie werden wir fähig, diese offenen Fenster zu nutzen?

Was ist militärische Logik und was ist Friedenslogik? Im militärischen Denken übe ich Druck aus und stelle dir Schaden in Aussicht. In der Friedenslogik schaue ich auf dein Interesse und frage mich, ob ich es nicht erfüllen könnte, weil dann ein gemeinsamer Vorteil entsteht. So war es bei den Getreideexporten. Denken wir an den einseitig von Moskau angekündigten Weihnachtsfrieden zur orthodoxen Weihnachtszeit. Der angegriffenen Seite fällt es natürlich schwer, auf so etwas einzugehen, aber da war ein Fenster offen. Wittere ich ständig Hinterlist im Sinne der Militärlogik oder bin ich bereit, im anderen den Menschen zu sehen und einen Vertrauensbeweis von meiner Seite zu geben? Dann kann man ja überprüfen, ob die Vereinbarung eingehalten worden ist oder nicht. Und dann könnte man vielleicht noch weitere Möglichkeiten erkunden und nutzen. Ich bin manchmal mit Experten und Expertinnen in Fernsehdiskussionen. Dann heißt es: Den Waffenstillstand nutzt man nur, um Nachschub zu organisieren. Ja, sicher, das wird jede Seite tun! Die Friedenslogik bedeutet, dass ich nicht umbedingt böse Absichten unterstelle. Ich zeige mein Vertrauen und die Bereitschaft, in Vorleistung zu gehen, und lasse das den anderen verstehen.

So wie Palästina wie ein Nabel der Welt erscheint, ein kleiner Fleck. Das Unvermögen, dort Frieden zu finden, strahlt auf die ganze Erde aus. Ist der russische Überfall und die jetzt beschriebene Kriegslogik auch etwas Globales, wo Kräfte, Mächte, Dämonen des 19. und 20. Jahrhunderts wirken?

Markus Osterrieder war kürzlich in Salzburg. Er ist Spezialist für die Ukraine, vor allem, was die historischen Dinge betrifft. Betrachtet man die Geschichte Russlands, der Ukraine und der osteuropäischen Länder, wie das Christentum dort Wurzeln geschlagen hat und auch welche ethnischen Auseinandersetzungen es da gab, oft im Namen der Religion, dann sieht man, dass es äußerst komplex ist und sich eine Rechtfertigung bestimmter Ansprüche aus der Geschichte vollständig erübrigt. Es geht um die Geistesgegenwart. Es geht um das Jetzige. Es klingt pathetisch, aber es geht um eine Bewusstseinsseelenhaltung, zu sagen: Was ist jetzt gefordert und wie befreien wir uns von all den Dingen, die uns einschränken? Die Argumentationen sowohl von der russischen wie auch von der ukrainischen Seite beziehen sich auf das Nationale, Geschichtliche. All diese Ansprüche sind irrelevant und stehen einer Lösung im Weg.

Weil jede Deutung möglich ist?

Sonst melden sich die Hunnen, weil sie vor 2000 Jahren in Österreich waren. Was ich zu diesen ‹Windows of Opportunity› gesagt habe, bedeutet, ganz radikal aus dieser Logik des Krieges auszusteigen und Nein zu sagen: statt Bestrafung Belohnung, statt Misstrauen Vertrauen, statt vager Andeutungen präzise Angebote. Dazu gehören auch einseitige vertrauensbildende Aktionen: Es würde die Nato überhaupt nicht schwächen, wenn sie bestimmte militärische Einheiten oder Potenziale von der russischen Grenze weiter wegziehen würde. Einseitige Aktionen tragen also zur Vertrauensbildung bei. Friedensarbeit ist nur möglich, wenn ich Risiken eingehe. Gemeint ist das Risiko, missverstanden zu werden, also dass die einseitige Aktion als Schwäche missverstanden und missbraucht wird. Bei Gorbatschows Angebot war es ja so, dass er trotz allem sagte: Ich ziehe das durch.

Die Wende zum Frieden, sind das einzelne Menschen, inspiriert von Höherem?

Aus spiritueller Perspektive: Ich denke, dass es die Archai, die ja mit dem Zeitgeist zu tun haben, momentan mit uns schwer haben. Aber auch die Erzengel, die ja Gemeinschaftsgeister, Volksgeister und Kulturgeister sind, und auch Sprachgeister, wenn ich an die Kriegsrhetorik denke und an die psychologische Kriegsführung über Sprachmanipulation. Also die haben es schwer mit uns. Aber gleichzeitig zeigen uns die Signale zum Fortbestand des Ökosystems des Planeten Erde, dass es fünf vor zwölf ist. Ich denke, wir haben oft erlebt: Angesichts der spürbaren Katastrophe geben wir Menschen uns einen Ruck und sagen: «Nein, Schluss damit, so kann es nicht weitergehen!» In meinem Buch ‹Konflikt, Krise, Katharsis› gehe ich näher darauf ein, dass die Krise wachrüttelt, dass wir mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen werden, bis wir endlich verstehen, was da los ist.

Und diese Konfrontation, nämlich dass wir mit den Folgen unseres falschen Denkens konfrontiert werden, das ist etwas, wodurch hoffentlich bei uns Menschen so etwas wie ein Erwachen geschieht. Für den Krieg heißt das, dass die Zivilgesellschaft aufsteht. Von vielen Seiten müsste die Forderung kommen, dass die Völker und Regierungen, die jetzt schweigend zuschauen, aufstehen und ihre bequeme Loge oder Tribüne verlassen. Ich steige runter, ich gehe in die Arena und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wahnsinn ein Ende hat. Dass wir uns alle jetzt ins Zeug legen.

Die 65 Länder, die schon den Vertrag zur Ächtung von Atomwaffen ratifiziert haben – unterschrieben haben ihn schon mehr Regierungen, aber ratifiziert erst 65 – sollten aufstehen! Demnächst gibt es dazu eine Konferenz in Wien. Und die Hoffnung wäre, dass diese Länder bei der Gelegenheit ihre Stimme erheben. Es reicht nicht, keine Atomwaffen besitzen zu wollen, jetzt muss man dafür eintreten, dass sie nicht eingesetzt werden. Jetzt müssen wir etwas tun, auch im Denken, damit der mögliche Einsatz von taktischen Atomwaffen nicht geschieht – sie wurden im Golfkrieg eingesetzt, vergessen wir das nicht. Wenn ich an den Klimawandel, die Wüstenbildung und die ganze Migration denke, dann sind die Aufgaben groß! Diese Länder haben sich bisher zu sehr der Dominanz der Industrienationen gefügt. Jetzt sollten sie sagen: So kann es nicht weitergehen. Dann ist auch Schluss mit der Höflichkeit im Sinne von ein wenig Finanzierung der ökologischen Schäden. Es geht um viel. Was sich in der Ukraine abspielt, betrifft ja nicht nur Russland und die Ukraine, sondern da spielt sich etwas ab, das mit der weltweiten Kulturentwicklung und Fragen unseres Menschseins zu tun hat. Es geht darum, der Rüstungsindustrie ein Stoppzeichen zu geben. Neben den furchtbaren Opferzahlen ist der ökologische Schaden durch die Invasion gewaltig. Präsident Putin hat noch 2021 gesagt, dass es bei allen Gegensätzen ja gemeinsame Probleme gebe, die man miteinander lösen müsse. Genau das trifft auf das Ökologieproblem zu, es betrifft Russland und Sibirien genauso.

Das würde auch heißen: eine Friedens- und Sicherheitsordnung nicht im Sinne des uno-Sicherheitsrats mit Vetorecht und dergleichen, sondern es müssen ganz andere Verfahren gefunden werden, in denen die Länder mit im Zentrum stehen, die man lange als Schwellenländer oder Entwicklungsländer bezeichnet hat. Das muss sich in einer anderen Ordnung abbilden, weil wir erkennen: Je mehr wir für Rüstung ausgeben, desto unsicherer scheint die Welt zu werden.

Und Ihre Hoffnung?

Die Kräfte des Friedens sind bei allem Kriegsgetöse aktiv – auch nachts in uns, wenn wir schlafen. Ich denke an das, was Rudolf Steiner in Kriegszeiten vor 100 Jahren beschrieb in dem Vortrag ‹Was tut der Engel in unserem Astralleib?› von 1917. Da sind Engel in unseren Seelen am Werk, um uns die Ideen und Ideale des Friedens einzugeben. Und ich denke, es wird unvermeidlich sein, dass mehr und mehr Menschen mutig in sich hineinhören und sich von dieser Stimme leiten lassen, wie Greta Thunberg und viele andere. Was für Vorbilder! Es geht um die Weltexistenz, und damit um jeden Einzelnen. Das lässt mich hoffen.


Alle Bilder Adrien Jutard, ‹Ohne Titel›, 42×29,7cm, 2021

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