Wie wir uns finden

An einem der Mitgliederforen der Anthroposophischen Gesellschaft 2023 ging es um ihre kulturelle Aufgabe. Zu acht an Tische verteilt begannen die Gespräche. Die Öffentlichkeit sei lügenhaft, diagnostizierte jemand, und deshalb müsse man die Wahrheit der Anthroposophie hinaustragen. Da fragte ein anderer: Wenn wir in einer gemeinsamen Welt lebten und draußen die Lüge herrsche, dann sei sie auch drinnen, und diese Unwahrheit gelte es zuerst zu verstehen und zu verwandeln. Die Verstellung der eigenen Seele, zeigt sich, das kennt vermutlich jeder auf Reisen, wenn man Fremden begegnet und aus der Komfortzone des Vertrauten heraustritt. Die Echokammern gibt es nicht nur digital, sondern auch sozial. An der Michaelikonferenz 2000 fasste diesen Gedanken Virginia Sease: Ihr Partner im Vorstand, Manfred Schmidt-Brabant, hatte Rudolf Steiners Begriff der ‹Okkulten Gefangenschaft› in die Konferenz eingebracht. Gemeint sind die Ketten, die man sich selbst anlegt und deshalb nicht spürt. Da sagte Virginia Sease, dass es ‹die anderen› seien, die fremde Welt, die hier den Schlüssel zum Lösen dieser Fesseln besitze. Die Begegnung befreit und öffnet zur Begegnung mit sich. Vor diesem Hintergrund bedeutet das politische und spirituell-anthroposophische Engagement von Gerhard Kienle – wie es Peter Selg in dieser Wochenschrift nachzeichnet – keinen Spagat, sondern die Feier der Einheit der Persönlichkeit: Weil sie bis in den politischen Diskurs in Begegnung geht, findet sie sich selbst. Am kürzesten sagt es Martin Buber: Wir werden am Du zum Ich.


Bild Gerhard Kienle und Konrad Schily

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