Am 25. Mai löste das Video der Tötung des Schwarzamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten in Minneapolis (USA) Protestwellen im ganzen Land – und in der ganzen Welt – aus. Ein Urproblem der Vereinigten Staaten taucht wieder auf. Es hat mit unserer Fähigkeit zu tun, Widerspruch und Anderssein auszuhalten, schreibt Daniel Hindes aus den USA.
Abgesehen von der Unmoral der Tat selbst waren es die verzweifelten Worte mehrerer Zeugen, die die Polizisten drängten, den Mann nicht zu töten, die stark berührt haben. Nichts in dem Video konnte die Unbarmherzigkeit, die zu sehen ist, mildern. Der Moment wurde zum perfekten Kristallisationspunkt eines seit Jahrzehnten andauernden ungelösten Problems in den Vereinigten Staaten – das Auftauchen eines Musters, das sich bereits millionenfach in verschiedenen Variationen wiederholt hat.
In den Vereinigten Staaten war die Geschichte der Republik immer ein Kampf, die mächtigen Ideale ihrer Gründung mit der hässlichen Realität ihrer Wirtschaft in Einklang zu bringen. Thomas Jefferson konnte inspirierend darüber schreiben, wie «alle Menschen gleich geschaffen werden», weil er aufgrund der Gewinne aus seiner Sklavenplantage Zeit zum Schreiben und zur Politik hatte. Viele Studien aus jüngster Zeit haben gezeigt, dass die wirtschaftliche Stärke der Vereinigten Staaten im Wesentlichen auf Sklavenarbeit und der Enteignung von Land der amerikanischen Urbevölkerung gründet. Sklavenarbeit bereicherte die gesamte Wirtschaft und das im Entstehen begriffene Finanzsystem. Dann stahlen US-Bürger unter Verletzung von Verträgen der US-Regierung den Ureinwohnern, die gebildete, zum Christentum konvertierte Landwirte und aufstrebende Bürger geworden waren, wesentliche Teile des amerikanischen Südens und Westens. Viele dieser Ureinwohner, vor allem im Südöstlichen Teil Amerikas, kleideten sich und wirtschafteten europäisch, organisierten ihre Dörfer, trieben Handel mit ihren weißen Nachbarn und hielten sich an die Regeln der Zivilgesellschaft. Dennoch wurden ihr Ackerland, ihre Häuser und ihre Güter gewaltsam enteignet, obwohl sie sich auf geltendes Recht beriefen und auf allen Stufen bis zum höchsten Gericht Recht bekamen.
Bis zum heutigen Tag bleiben die Vereinigten Staaten in einem oft erbitterten Kampf um die Verwirklichung ihrer Gründungsintentionen gefangen. Die inspirierendsten politischen Führer in der Geschichte der Republik haben sich stets auf diese Sprache berufen: «Um eine vollkommenere Union zu bilden …» (Präambel der US-Verfassung), «… in Freiheit ersonnen und der Prämisse verpflichtet, dass alle Menschen gleich geschaffen sind» (Lincoln, Jefferson zitierend), «Wer immer in den Vereinigten Staaten lebt, kann niemals als Außenseiter betrachtet werden» (Martin Luther King Jr.). Über die Jahrzehnte hinweg ist der Fortschritt ins Stocken geraten: zwei Schritte vorwärts und ein Schritt zurück. Der Einfluss tradierter kultureller Formen ist enorm. Während Europa immer wieder mit dem Aufflammen des Antisemitismus zu tun hat, scheint in den Vereinigten Staaten der ideelle und praktische Rassismus als Denk- und Handlungsgewohnheit nie zu enden. Nichts scheint die nächste Generation daran zu hindern, wieder auf der Grundlage von zuvor verfälschten Ideen zu handeln.
Rassismus ist eine besondere amerikanische Herausforderung und zugleich der Inbegriff dessen, was unsere Zeit überwinden muss. Ihm zugrunde liegt die Frage, wie wir uns zueinander verhalten und wie wir uns selbst und einander verstehen. Es sind Herausforderungen der heutigen Menschheit, das Böse zu erkennen, und zwar in uns selbst. Denn die Natur des Bösen ist heute nicht so einfach, wie sie vielleicht in früheren Epochen erschien: eine äußerliche Macht, der man bloß mit Mut begegnen konnte. Heute ist das Böse in unsere Gesellschaftsstruktur eingewoben, Strang für Strang, neben dem Guten. Es kann nicht einfach zerstört werden. Es muss entflochten, erkannt werden.
Die Werkzeuge in diesem Projekt sind kognitiver Art: Es braucht die Wachheit für das, was unbewusst in unserer eigenen Seele lebt. Amerikanerinnen und Amerikaner aller Hautfarben besitzen ein kulturelles Erbe, das durch bestimmte Überzeugungen und Annahmen über die Hautfarbe und die Art, wie das Urteilsvermögen durch den ersten Eindruck codiert wird, in ihrem Bewusstsein verankert wurde. Es gibt ein ganzes Teilgebiet der Soziologie, das diese Vorannahmen analysiert und klassifiziert und sogar eine kulturelle Archäologie zur Erforschung ihrer Ursprünge und Transformationen im Laufe der Zeit betreibt. Wenn sie bewusst gemacht und analysiert werden, werden sich alle darin einig sein, dass diese Ideen unbegründet und ungerecht sind. Dennoch sind sie omnipräsent und ein wesentlicher Teil unseres kulturellen Erbes. Sie beeinflussen unser Handeln, unabhängig davon, wo wir uns in der gesellschaftlichen Ordnung befinden. Die in dieser kulturellen Schrift codierten Muster spielen sich immer wieder ab.
Doch nach und nach hat sich vor allem in der jüngeren Generation in den letzten Jahrzehnten das Bewusstsein für diese Muster und Dynamiken weiter verbreitet. Es ist eine Aufgabe und Fähigkeit der heutigen menschlichen Seele – der Bewusstseinsseele –, sich sowohl solcher Muster als auch unserer eigenen Rolle bei deren Aufrechterhaltung bewusst zu werden. Dieses schwierige Werk der Erkenntnis spielt sich heute überall in den Vereinigten Staaten auf den Straßen ab. Viele zeigen, dass sie das Problem erkannt haben. Das sind die friedlichen Demonstrierenden.
Andere Protestierenden aber sehen das Böse vor allem in den Handlungen anderer. Viele von ihnen neigen zur Gewalt – eine Verdrängung der inneren Arbeit nach außen. Ob als Regierungsvertreterin oder Regierungsgegner, viele dieser Demonstrierenden verdeutlichen mit ihrem negativen Vorbild anschaulich, welche Fähigkeiten es innerlich zu kultivieren gilt.
Bild: Ein Porträt von George Floyd, der am 25. Mai durch einen Polizisten fahrlässig getötet wurde, wird während einer Demonstration gezeigt.
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