Wie verhalten sich Waldorfpädagogik und Anthroposophie zueinander?

Teil 2 – Die Darstellung für verschiedene Zielgruppen


Indem Anthroposophie der Boden für die Entstehung der Waldorfpädagogik geworden ist, gibt es mindestens zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen, für welche die Waldorfpädagogik dargestellt wird. Die erste Gruppe sind natürlich die Waldorflehrerinnen und -lehrer, die diese Pädagogik praktizieren und entsprechend aus- und fortgebildet werden müssen. Die andere Gruppe ist eine anthroposophisch interessierte, nicht vorgebildete Öffentlichkeit. Diese hat ihre spezifischen Voraussetzungen und Interessen und für sie ist die Waldorfpädagogik ganz anders darzustellen und zu begründen als für eine anthroposophisch vorgebildete Lehrgemeinschaft der Waldorfschule. Man kann also von den pädagogisch relevanten Darstellungen und Begründungen Steiners nicht einheitlich sprechen, sondern muss jeweils die Zielgruppe sorgfältig berücksichtigen.

Damals …

Ein anschauliches Beispiel dafür ist Steiners Artikel ‹Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule› (GA 24, S. 83 ff.) von September 1919. Steiner bezeichnet es als «im Wesentlichen eine Art Zusammenfassung für das Publikum alles dessen, was wir im Kursus haben» (Steiner GA 300a, S. 80). Mit «Kursus» ist der Vorbereitungskurs für die angehenden Waldorflehrkräfte gemeint (Steiner GA 293–295). Die Inhalte und der Stil der beiden Texte unterscheiden sich sehr stark im Hinblick auf die intensive Verflechtung der pädagogischen Fragen mit den Inhalten der allgemeinen Anthroposophie im Vorbereitungskurs und auf die mehr prinzipielle Behandlung der pädagogischen Fragen mit dem jeweiligen andeutenden Verweis auf eine besondere Art der «Menschenerkenntnis», die in der Waldorfschule die Grundlage bildet.

Analysiert man also Steiners pädagogische Texte, wären mindestens zwei bzw. drei Textsorten zu unterscheiden im Hinblick auf die Voraussetzungen von Zuhörern bzw. Leserinnen: Die mündlichen Vorträge für die waldorfpädagogische Gemeinschaft und die aufgezeichneten Gespräche mit ihren Teilnehmenden, die Vorträge für die interessierte pädagogische Öffentlichkeit und die geschriebenen Aufsätze für die breitere Öffentlichkeit.

Nur wenn man die dritte, teilweise auch die zweite Textsorte berücksichtigt, merkt man, dass Steiner weitgehend darauf verzichtet, anthroposophische Inhalte explizit zu verbalisieren. Er konzentriert sich überwiegend auf eine geistesgeschichtliche und philosophische Begründung der Waldorfpädagogik, die Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen, das Curriculum der Schule sowie die entsprechenden methodischen und didaktischen Gesichtspunkte einzelner Unterrichtsgebiete aufgrund seiner Erfahrungen in der pädagogischen Praxis der Waldorfschule.

Da, wo es aber um die Trägerinnen und Träger der Waldorfpädagogik und um die Entwicklung ihrer pädagogischen Fähigkeiten geht, werden die zentralen Kernthemen der Anthroposophie von Steiner unentwegt einbezogen. Es ging also nicht um ein «esoterisches Theoriegebäude» (H. Zander), sondern um Selbstlosigkeit und Intuitionsfähigkeit und andere pädagogische Fähigkeiten. In der Anthroposophie lässt sich so etwas wie der Quellpunkt der originären Waldorfpädagogik sehen, denn dies ist die erste und die eigentliche Inspiration für die ganze pädagogische Praxis für Generationen von Waldorflehrerinnen und -lehrern.

… und heute

Nun leben wir heute im Zeitalter von Internet mit Social Media, Telegram, Youtube, Meta, Instagram usw., wo sich Inhalte blitzartig, uneingeschränkt und ungeschützt verbreiten, wo alles immer für alle zugänglich ist und in der Regel nur schnell und oberflächlich wahrgenommen und bewertet wird. Dadurch ist es heute erheblich schwieriger, die unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen der Zielgruppen zu berücksichtigen. Ein vertieftes Lesen und Verstehen kann nicht erwartet werden. Gerade deswegen ist große Bewusstheit, Sorgfalt und Verantwortung im öffentlichen Umgang und der Rezeption mit der Waldorfpädagogik angebracht.

Es ist ein grundlegender Unterschied, wie die pädagogischen Themen und Fragen in einer öffentlichen Darstellung oder in solchen Zusammenhängen, bei denen es um tätige Waldorflehrerinnen und -lehrer geht, vertreten werden. In öffentlichen Präsentationen – sei es ein Podcast, ein Video, ein Aufsatz, ein Vortrag oder ein anderes Format – muss man sich mithilfe einer allgemein üblichen Terminologie und im alltäglichen Themenhorizont mit den aktuellen Zeitfragen artikulieren und auf vertiefende anthroposophische Inhalte im engeren Sinne tatsächlich weitgehend verzichten. Es sollen keine Fragen beantwortet werden, die nicht gestellt wurden. Anlass der Darstellungen sollten aktuelle pädagogische und gesellschaftliche Probleme und Nöte sein. Was können wir dazu beitragen? Ich gehe davon aus, dass in dieser Hinsicht in jeder einzelnen Waldorfschule viel davon geschieht. Darüber hinaus gehen die besonders bekannten waldorfpädagogischen Ansätze wie die Medienpädagogik, die interkulturelle Pädagogik, die inklusive Pädagogik, die pädagogischen Methoden der Prävention und Salutogenese, die pädagogischen Methoden der sekundären Prävention im Falle einer Traumatisierung im Rahmen der Notfallpädagogik (insbesondere in Krisengebieten weltweit), die Integration von Lernen und praktischer Arbeit, die Integration des Lernens in einem landwirtschaftlichen Zusammenhang u. a. m. Die Waldorfpädagogik ist selbstverständlich in einer solchen pädagogischen Praxis nicht exklusiv, sondern bereichert diese um originelle und wesentliche Aspekte.

Da wegen der Komplexität der gegenwärtigen Herausforderungen Problemlösungen und Strategien der Krisenbewältigung (sei es in gesundheitlicher, ökologischer, politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht) heute vermutlich zunehmend interdisziplinär angegangen werden können, wären besonders jene anthroposophischen Aktivitäten hervorzuheben, die aus der Verbindung der Pädagogik mit der Medizin und mit der Landwirtschaft heraus entstanden sind. Diese trans- oder prädisziplinäre Seite der Anthroposophie erweckt dann erfahrungsgemäß auch Interesse bei Menschen, die sich außerhalb der engeren Waldorf-Community bewegen. Man missachtet bei öffentlichen Anlässen die Voraussetzungen der Zuhörenden, wenn man sie mit anthroposophischer Terminologie konfrontiert, dogmatisch oder missionarisch auftritt und Anthroposophie als Bekenntnis oder als Weltanschauung vertritt. Dadurch schadet man dem Anliegen der Anthroposophie selbst.

Ähnlich bewusst und taktvoll sollte man als Lehrerin oder Lehrer auch bei den Elternabenden vorgehen, denn die Eltern von Waldorfschülerinnen oder -schülern sind in der Regel nicht an der Anthroposophie interessiert, sondern an der gesunden Entwicklung und den konkreten Lernfortschritten ihrer Kinder.

Dass das auch für die schulischen Unterrichtsinhalte selbst gilt, wird hier als selbstverständlich vorausgesetzt.1 Die Themen der Anthroposophie dürfen nicht in den Unterricht einfließen. Eine besondere Situation ist, wenn Oberstufenschüler oder -schülerinnen die Frage nach Rudolf Steiner und der Anthroposophie stellen und in einem Unterrichtszusammenhang darüber mehr direkt erfahren wollen.

Etwas anders ist es in der gemeinsamen pädagogischen Arbeit der Waldorflehrerinnen und -lehrer in den Konferenzen. Zwar nehmen einerseits auch dort häufig Lehrerinnen und Lehrer teil, die kein waldorfpädagogisches Studium absolviert haben und dadurch wenig mit anthroposophischen Inhalten vertraut sind. Andererseits sind die Konferenzen eine zentrale Einrichtung der kontinuierlichen Weiterbildung des Kollegiums. Insofern ist es die Gelegenheit für alle, sich anhand der pädagogischen Fragestellungen vertieft und differenziert mit anthroposophischen Inhalten auseinanderzusetzen und sich darüber frei auszutauschen. An dieser Stelle gehört sogar Mut dazu, sich vor diesen Themen nicht zu scheuen. Denn sie gehören zur Professionalisierung der Waldorflehrerinnen und -lehrer, zur wachen Selbstreflexion und zur Steigerung der pädagogischen Qualität. Es sind aber einige Bedingungen dabei zu berücksichtigen: Solche Themen dürfen sich nie verselbständigen und müssen immer in Anbindung an die pädagogischen Kontexte behandelt werden. Sie müssen in einem absolut freilassenden antiautoritativen kollegialen Klima bewegt werden. Sie setzen einen rationalkritischen, aber offenen Umgang voraus und sollten nie als Dogmen oder in der Art religiöser Glaubensinhalte aufgefasst werden.

In Bezug auf das Studium und die Ausbildung von Waldorflehrerinnen und -lehrern und deren unterschiedliche Voraussetzungen ist es folglich schwierig, Allgemeinplätze zu formulieren. Die Spannbreite geht von sehr jungen Menschen nach dem Abitur bis zu Menschen, die bereits hoch motiviert an den Waldorfschulen tätig sind, Waldorfeltern sind und dennoch ein unterschiedliches Interesse an der Anthroposophie mitbringen. Prinzipiell ist einerseits große Zurückhaltung hinsichtlich der anthroposophischen spirituellen Themen und Respekt vor den allgemeinen Bildungshorizonten der Interessierten geboten, andererseits sollten mindestens Voraussetzungen geschaffen werden, damit man offen ist für ein praktisches und wissenschaftlich reflektiertes Umgehen mit ihnen.


Im dritten Teil dieser Reihe (Heft 29–30) lesen Sie mehr darüber, wie anthroposophische Kernthemen in den pädagogischen Darstellungen von Rudolf Steiner einbezogen werden.


Zeichnung von Anuck, 5 Jahre, Kassel

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Footnotes

  1. Aktuell werden in der deutschen Waldorfschulbewegung Fragen nach dem Lehrplan des Geschichtsunterrichts gestellt. Ist nicht eine jahrzehntelange, kaum reflektierte Rezeption von Rudolf Steiners Darstellungen zur Kulturgeschichte, insbesondere im Hinblick auf die sog. Kulturepochen, Quelle einer problematisch einseitigen Geschichtsdidaktik geworden? (Z.B. in der fünften Klasse der Waldorfschule) Dies bezieht sich auf die Einteilung der historischen Entwicklung in eine sog. ur-indische, ur-persische Kulturepoche usw.

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