Gespräch mit den Eurythmistinnen und Eurythmisten der Goetheanum-Bühne während der Proben zur Inszenierung ‹Achterwind›. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Entdecken, eröffnen, entscheiden und die künstlerischen Fähigkeiten untersuchen, das stand am Anfang des Eurythmie-Projekts ‹Achterwind›. Jenseits der klassischen Arbeitsteilung von eurythmischer Regie und eurythmischer Gruppe auf die künstlerische Suche zu gehen, das habe schon länger als Wunsch bestanden, erzählen sechs Eurythmistinnen und Eurythmisten des Goetheanum-Eurythmie-Ensembles. Von anderen Eurythmiegruppen kennen sie solche gemeinschaftliche Suche nach dem künstlerischen Ausdruck oder haben auch daran teilgenommen. Dann war da mit einem Mal die Einladung der Ensembleleitung, selbst ein künstlerisches Projekt zu entwickeln. Das Schöne dabei, so Rafael Tavares, sei gewesen, dass es keine inhaltlichen Vorgaben, keine personellen Verabredungen gab. Offener hätte es nicht sein können. Sie entdeckten, so Nicolás Prestifilippo, dass sie für dieses eurythmische Suchen und Finden keinen Primus inter Pares, keinen Verantwortlichen unter sich finden mussten, sondern dass sie aus der Gemeinschaft eine Gemeinschaft bildeten. «Welche Themen, welche Ideen leben denn unter uns? Das haben wir uns gefragt», erzählt Martje Brandsma.
Wenn es magisch wird
Nicolás Prestifilippo: «Wir wollten herausfinden, welche tieferen Fragen in uns leben und nach Antworten rufen, unabhängig davon, ob sich das in Eurythmie setzen lässt. Dann fragten wir nach den Mitteln, nach Musik, nach Texten, die uns hier helfen könnten. Da kam eine Kiste voll mit Material zusammen: über die Menschenwürde, über die Dinge, die wir im Leben verlieren …» Wie wird aus diesem Ideenpool eine künstlerische Gestalt? Indem jeder und jede aus diesem Rohstoff ein eigenes Skript für ein Bühnenprojekt entwickelt, eine eigene Geschichte erzählt! «So sind sechs Welten entstanden, durch die wir uns dann gegenseitig führten», so Christine Prestifilippo. «Wir sind uns gegenseitig tiefer begegnet, denn wir erfuhren, welche Schätze in den anderen liegen.» Marianne Dill: «Ja, es lebten die Ideen der anderen in mir, sodass das Gespräch miteinander auch dann stattfand, wenn wir gar nicht zusammen waren. Es entstand ein inspiratives Feld!» Für Martje Brandsma ist es das Phänomen, dass jemand der Gruppe etwas ausspricht, das sie selbst schon fühlte, aber nicht in Worte fassen konnte. Spielt es hier eine Rolle, dass Eurythmistinnen und Eurythmisten sich ja auch leiblich gut kennen? Rafael Tavares: «Es ist nicht selbstverständlich, dass Eurythmisten, weil sie sich zusammen bewegen, sich deshalb auch kennen. Wir können uns auch durchaus aneinander vorbeibewegen. Aber hier ist es tatsächlich anders. Der gemeinsame Prozess war so fruchtbar, dass das nötige Vertrauen entstanden ist. Gleichwohl ist richtig, dass wir uns nicht nur über den Gedanken, sondern auch über die Bewegung verstehen. Das war manchmal magisch: Martje oder jemand anderes der Gruppe begann einen Satz und ich konnte ihn innerlich vollenden.»
Andere hören
Dann lagen die sechs Skripte auf dem Tisch. Doch wie nun weiter? Martje Brandsma: «Wir mussten eine Entscheidung treffen und die hieß nach ein, zwei Stunden Gespräch: Wir nehmen Rafaels Skript als ‹Skelett›, von dem aus wir dann weitergehen. Dabei hatte und habe ich das Vertrauen, dass das, was in meinen Ideen Gewicht hat, schon in dem gemeinsamen Werk sich entfalten kann.» Nicolás: «Dabei ist schon richtig, dass wir als Boden unser gemeinsames Bewegen haben. Was noch mehr zählt, ist, ob man den anderen, die andere ‹hören› kann. Dafür dienten die sechs Programme: sich einander hören zu lernen. Ich habe in dem Prozess einmal gesagt: «Willst du jemanden kennenlernen, lass ihn ein eurythmisches Programm gestalten.» Rafael Tavares: «Sich so ein Programm auszudenken, das ist schon ein Geburtsprozess, man gibt so viel Energie und dann ist es natürlich schmerzvoll, wenn die Gruppe einen anderen Weg einschlagen will.» Nicolás Prestifilippo: «Uns hat auch der Rhythmus geholfen: Wir trafen uns über zwei Monate wöchentlich, so konnte etwas wachsen, was vielleicht nicht geschieht, wenn man sich in einer kürzeren Spanne täglich trifft.» Auf den Eurythmie-Messen vor 20 Jahren sagten einige Veranstaltende, der Eurythmie fehle es bei manchen Bühnenprogrammen an Botschaft, an einem Erzählwillen.
«Wollt ihr etwas ‹sagen›?» Rafael Tavares: «Es ist uns wichtig, eine Geschichte zu erzählen – eine Anregung zu schaffen, die den Zuschauer oder die Zuschauerin zu einer Antwort, noch besser zu neuen Fragen bringt. Wir wollen also das Publikum an einen Ort führen, wo sie dann selbst einen eigenen Schritt machen können.» Marianne Dill: «Ja, da geht es um die Logik der Entwicklung, da hängt so viel davon ab, ob die einzelnen Stücke zusammengehören, einen inneren Weg zeichnen können.» Martje Brandsma: «Dieser Weg führt zu einem selbst, deshalb kann und darf man ihn nicht vorzeichnen, es kommt vielmehr auf diesen inneren Raum an, der uns auf die Reise zu uns selbst einlädt.»
«Ja, und welche Geschichte erzählt ihr?» Rafael Tavares: «Es gibt eine große Geschichte, die Geschichte der Menschheit, der Erde, und da stehen wir heute in einer Art Chaos. Es gibt so vieles, was wir heute nicht mehr verstehen. Wir fragen uns, was ist der nächste Schritt? Wir wollen mit dem Programm ‹Achterwind›, das ja übersetzt Rückenwind heißt, hier keine Antwort geben, aber wir wollen damit etwas geben, was uns fähig werden lässt für diese nächsten Schritte.» Shengtzi Lee: «Wir geben keine Botschaft, wir machen auch nicht bloß schöne Eurythmie, sondern was wir wollen ist, mit Eurythmie etwas von der Zukunft hereinzuholen, auf etwas zu zeigen. Wie können wir das Publikum berühren? Diese Frage leitet uns.» Und Nicolás Prestifilippo ergänzt: «Die Eurythmie ist fähig, eine Geschichte zu erzählen! Mit ihr können wir einen Raum gestalten, in dem die Frage, wie es weitergehen soll, eine Resonanz bekommt. Darauf wollen wir zeigen. Dann spielt es keine Rolle, ob man Eurythmie kennt, ob einem ihre Gebärden vertraut sind oder nicht.»
Verrückte Hoffnung
In der Corona-Zeit wird scheinbar alles zur Frage, alles kommt auf den Prüfstand. Was heißt das, wenn man heute so ein Eurythmie-Programm entwickelt? Martje Brandsma: «Zuerst: Wir haben mehr Zeit. Die Zeit ist anders als vor der Pandemie. Und mit dieser Zeit können wir eurythmische Räume schaffen. Ja, mehr als Räume sind es bewegte Räume, es ist eine Reise, in der Geschichten, Begegnungen aufsteigen. Dabei leitet uns das Schiff, weil auf dem Schiff kannst du nicht aussteigen, du kannst nicht einfach von Bord gehen. Die Lichtseite davon heißt, es gibt eine Gemeinschaft, die zusammen unterwegs ist, die füreinander da ist. Deshalb treten wir während der Aufführung nie ab, wechseln nie Kostüme, wir bleiben an Bord. Und zur Reise gehört ja die Begegnung mit dem Unbekannten. So ist unsere Zeit! Geht es uns nicht so wie Marco Polo oder Magellan oder den Astronauten, die ins Unbekannte vorstießen mit der Hoffnung, dass da irgendwo Land sein wird?»
Rafael Tavares: «Verrückte Hoffnung, das war ein Arbeitstitel. Denn was uns als einzelner Mensch und wohl auch als gesamte Menschheit antreibt, das ist doch immer wieder diese verrückte Hoffnung!» Und wie auf jeder Reise geschieht dann etwas? Tavares: «Ja, zum Beispiel, dass lieb gewonnene Dinge des Lebens verschwinden. Wann wird der Verlust zur Befreiung? Zum Beispiel, dass jemand auf alle Planeten wandert, bis er nichts mehr zu suchen, zu finden vermag als sich selbst – ja, so ist das doch auf der Reise, wir sind unterwegs zu uns selbst!»
Premiere Samstag 23. Oktober 2021, 19.00 Uhr
Nächste Aufführung Sonntag 14. Oktober 2021, 16.30 Uhr