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Wie aus den alten neue Wege werden

Es war eine hitzige Diskussion in der zehnköpfigen Studentenwohngemeinschaft. Wer solle wie auf dem Hof vor dem großen Studentenhaus sein Auto parken, damit man, ohne ständig zu rangieren, zur Uni fahren könne.


Viele fuhren auf den letzten Drücker, sodass die Blechrochaden die letzten Zeitreserven raubten. Ich lauschte den wechselnden Argumenten, wie sich der Waagebalken der Redeschlacht mal zu dieser und dann zu jener Seite neigte. Dann kam die Wende: Als das Redegewitter für einen Moment innehielt, sagte einer der Bewohner: «Stimmt, eure Argumente sind die besseren, ihr habt recht.» Stille. Das Blut wich aus den Gesichtern, die Arena wurde zum runden Tisch. Es sind besondere Momente des Menschlichen, wenn es jemandem gelingt, aus dem Wenn-dann-Nexus herauszutreten. An die Stelle des Gesetzes von Actio und Reactio tritt dann der Entschluss eines Einzelnen. Es ist wohl immer eine Feier der Freiheit, wenn jemandem dieses Innehalten und Besinnen gelingt. Ein Urbild dieser Wende ist das kretische Labyrinth. Anders als im Irrgarten der Renaissance geht es hier nicht darum, aus den vielen Sackgassen den richtigen Weg zu wählen und die falschen Wegangebote zu meiden. Hier wandert man, wie 3000 Jahre später im Labyrinth von Chartres, von links nach rechts und wieder zurück, um am Ende in der Mitte anzukommen. Es ist ein atmendes Pendeln, ein Tanz, der schließlich in die Mitte führt. Im kretischen Labyrinth geht es sieben Mal über die Seiten, bis man im Zentrum ankommt. In Chartres sind es 28 Spitzkehren bis zur Mitte. Und diese Mitte ist der Ort, wo es nur weitergeht, wenn man sich umwendet. Erst wenn man sich vollständig umwendet, ist ein nächster Schritt möglich.

Ändert euren Sinn

Bei Platon im Höhlengleichnis (Politeia 518) ist es ‹periagoge holes tes psyches›, die ‹Umwendung der ganzen Seele›. Auf sie läuft dieses wohl berühmteste Gleichnis der Philosophie hinaus. Vom Anblick der Schatten, die über die Wand huschen, befreit sich der Einzelne, wendet sich vom Schattenspiel ab und kehrt den Blick über den Rücken, um dort die Gestalten zu entdecken, die sich vor dem Feuerschein bewegen. Es ist die Wende vom Abbild zum Urbild, vom Schatten zum Licht. So ist es auch mit dem Läufer im Labyrinth: Auch er muss die vollständige Drehung vollziehen. Vor der Drehung liegt das Innehalten, kommt alle Zeit zum Stehen und in diesem Stillstand kommt die Besinnung. Läuft an Weihnachten alles auf die Stille zu, ist an Johanni die Stille der Anfang.

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Und diese Mitte ist der Ort, wo es nur weitergeht, wenn man sich umwendet.

Vor zwei Jahren erzählten wir im Johanniheft die Geschichte des Umkehrens aus einem der berühmtesten Filme des 20. Jahrhunderts, aus ‹High Noon›, zwölf Uhr mittags: Das frisch vermählte Hochzeitspaar sprengt nach dem Fest auf dem Kutschbock mit galoppierenden Pferden aus dem Dorf. Doch mit einem Mal, inmitten der weiten Steppenlandschaft, zieht der Mann die Zügel. «Warum hältst du?», fragt die Braut. «Ich muss umkehren, das ist nun mal so», lautet die trockene Antwort. Sein Gewissen zwingt ihn zur Umkehr, zwingt ihn, noch einmal für den einen Tag den Sheriffstern anzuheften, denn mit dem Zug um zwölf Uhr mittags kommt der Verbrecher, der es dem ehemaligen Sheriff und der ganzen Stadt heimzahlen will. Das Hochzeitsfest ist kaum verklungen, da muss der Bräutigam zusehen, wie der Schreiner Särge zimmert. In das Fest des Lebens bricht der Ernst des Schicksals ein. Im Film ist es das unerträgliche Warten auf den Zug, der Kameraschwenk auf die kriechenden Zeiger der Uhr und immer wieder die Schritte des einsamen Mannes unter der Mittagssonne durch die leer gefegte Stadt. Hinter den Vorhängen die schweigenden Mienen all derer, die er vergebens um Hilfe bat. Ist Weihnachten mit Krippe und Stall das Fest äußerer Einsamkeit, so ist Johanni die Feier der inneren Einsamkeit. Wann könnte diese Einsamkeit größer sein als dann, wenn man aus der Fülle des Lebens, aus dem Blütenzauber des Sommers innezuhalten beginnt, wenn man aus der Selbstvergessenheit zu sich selber kommt?

Darwin, Bunsen und Freud läuten Johanni ein

Der Theologe Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) beschrieb die Schöpfung und die menschliche Leiblichkeit als ‹zu Ende gegangene Wege Gottes›. (1) Ein Weg an seinem Ende erinnert wieder an das Bild des kretischen Labyrinths und an den Sonnenlauf, dessen aufsteigender Weg sich mit Johanni abschließt. Es lassen sich viele Phänomene aufzählen, die das Ende der alten Wege vorführen. Rudolf Steiner nennt in seinem Gespräch mit Edouard Schuré drei naturwissenschaftliche Entwicklungen als Bedingung dafür, dass sich Spiritualität öffentlich entfalten dürfe: Evolutionslehre, Spektralanalyse und Psychoanalyse. (2) Diese drei Disziplinen sind wie die abschließende Wand im Labyrinth, geistige Einschläge, wodurch die drei großen alten Wege zum Geistigen nicht mehr in ihrem alten Sinne bestehen. ‹Es war einmal›, das war das große Versprechen, wo man den Geist finden könne, in der Vergangenheit, in ihrem mythischen Dunkel. Mit der Evolutionslehre dringt das Licht des Intellekts in diese Sphäre und verschließt diesen Weg zum Geist. Nicht anders ist es mit der Spektralanalyse, die Ende des 19. Jahrhunderts von Robert Bunsen und Robert Kirchhoff entdeckt wurde. Nun lässt sich aus dem Licht der Sterne deren Stoffzusammensetzung ermitteln. Auch in den Tiefen des Weltalls herrschen, folgt man der Entdeckung der Spektralanalyse, irdische Verhältnisse. War in den alten Wegen im Unendlichen der Geist zu finden, dann ist nun auch dieser Weg verschlossen. Die dritte Spur zum Geist ist der Weg nach innen. Mit der Psychoanalyse und ihrem physikalischen Blick auf die Seele ist auch dieser Pfad entzaubert worden. In den Tiefen der Seele finden sich Übertragungen und Trauma, Zwänge und Sehnsüchte, aber nicht der Funke Gottes. So läuten diese Disziplinen eine dreifache Johannizeit ein, wonach es im Raum, in der Zeit und in der Seele neue Wege sind, die zum Höheren führen. Neu an diesen Wegen ist vermutlich, dass sie erst beim Gehen entstehen.


(1) Sigrid Großmann, Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung, Göttingen 1979 S. 88
(2) GA 262, Aufzeichnungen Rudolf Steiners, S. 23

Bild: Nina Gautier

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