Widerstand und Gnade

Sophie Scholl war nur 21 Jahre alt, als sie für ihr Handeln aus Überzeugung hingerichtet wurde. Eine kurze Chronologie ihres Weges.


Sophie Scholl kam am 9. Mai 1921 im Rathaus von Forchtenberg zur Welt, wo ihr Vater Ortsvorsteher war. Die Eltern und die vier Geschwister waren für sie lebenslang der «feste Grund», in dem sie ihre emotionalen, geistigen und geistlichen Wurzeln hatte. Ihre Mutter, Lisa Scholl, die vor ihrer Heirat als Diakonisse arbeitete, lebte ihren Kinder einen fröhlichen und offenen Protestantismus vor, der fest auf ‹Gottes Gnade› vertraute. Täglich las sie in der Bibel.

Dass der Glaube ein sicherer Hort war, wurde für Sophie Scholl ebenso selbstverständlich wie die Erfahrung, dass die Eltern sich in ihren tiefen religiösen Gegensätzen akzeptierten. Der Vater, Robert Scholl, war ein Verehrer Friedrich Schillers und von dessen ‹Evangelium der Freiheit›: Ohne jeden Gottesbezug sei der Einzelne aufgerufen, in Freiheit und Verantwortung aus seinem Leben Großes zu machen.

Beide Eltern waren überzeugt von der Demokratie; niemals haben sie die Nationalsozialisten gewählt, nachdem im März 1933 die Weimarer Republik von der Hitler-Diktatur abgelöst wurde. Die Scholl-Kinder nahmen sich die anerzogene Freiheit, ihren eigenen Weg zu gehen.

Im Januar 1934 tritt die dreizehnjährige Sophie Scholl in Ulm in den Bund Deutscher Mädel (BDM) ein, eine nationalsozialistische Organisation innerhalb der Hitlerjugend. Sophie macht – wie Hans und Inge Scholl – zielstrebig Karriere im BDM. Als BDM-Führerin verkündet sie NS-Parolen und begeistert ihre Mädchengruppe für ihr Ideal einer gerechten Welt.

Für Sophie Scholl ist es kein Widerspruch, sich 1936 in der Ulmer Pauluskirche konfirmieren zu lassen. Die leitenden Geistlichen der evangelischen Kirche preisen Adolf Hitler in öffentlichen Kundgebungen als christliches Vorbild und sehen im Nationalsozialismus die Rettung, um Deutschlands Größe wieder herzustellen.

Anfang September 1939 – Deutschland hat Polen überfallen und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst – schreibt Sophie Scholl an ihre beste Freundin, Lisa Rempiss: «Ich hoffe sehr, dass der Krieg bald endet. Wie ist mir einerlei.» Eine ungeheure Provokation in einer Diktatur, dessen Führer Krieg als Mittel einsetzte, ganz Europa zu beherrschen, und im Innern jede abweichende Meinung gewaltsam unterdrückte. Wie passte das zu einer BDM-Führerin?

Sophie Scholl hat seit 1938 keine führende Position mehr im Ulmer BDM. Doch es gibt keinen Hinweis, wann sie sich innerlich vom Nationalsozialismus distanzierte und erkannte, dass ihr Idealismus ausgenutzt wurde. Niemals wird Sophie Scholl sich in ihren Briefen an die Geschwister, an Eltern und Freundinnen einen Blick zurück auf die Jahre erlauben, als sie in brauner NS-Kluft durch Ulm marschierte. Trotzdem gibt es keine Zweifel: Seit Kriegsausbruch stehen alle ihre überlieferten Aussagen für einen radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit als NS-Führerin, der zu den Flugblattaktionen der Weißen Rose führte und mit ihrem Leben besiegelt wurde.

Im April 1941 wird Sophie Scholl zum Reichsarbeitsdienst zwangsverpflichtet und muss dem NS-Staat ein Jahr als billige Arbeitskraft dienen. Aus diesen Monaten haben sich Tagebuchblätter erhalten, die eine neue Dimension ihres Lebens offenlegen. Die Zwanzigjährige hat sich auf die Suche nach Gott begeben, der ihr in Kindheit und Jugend so nahe war. Doch sie macht eine neue schmerzhafte Erfahrung.

Die dunkle Nacht der Seele

Seit Urzeiten haben Menschen die dunkle Nacht der Gottesferne erlebt, manche haben es aufgeschrieben. Zu ihnen gehört Martin Luther, der seine Suche nach einem gnädigen Gott so beschreibt: «Ich selbst habe es mehr als einmal bis in die Tiefe und den Abgrund der Verzweiflung wahrgenommen. […] Der Mensch ist ein Abgrund, ungesichert alles, woran wir uns halten. […] Da bleibt nichts anderes als der nackte Schrei nach Hilfe, ein schreckliches Seufzen, das nicht weiß, wo Hilfe zu finden ist.» Und das war für den Reformator die schrecklichste aller Erfahrungen: «Gott ist da, aber er zeigt sich nicht.» Der ferne, der verborgene Gott wurde zur Grundlage von Luthers Glauben und Theologie, eingebunden in die Überzeugung, dass es dieser Gott ist, bei dem am Ende dennoch Hilfe zu finden ist.

Knapp vierhundert Jahre später schreibt die zwanzigjährige Sophie Scholl im Dezember 1941 über ihre Erfahrungen mit Gott in ihr Tagebuch: «Ich will mich an ihn klammern, und wenn alles versinkt, so ist nur er, – wie schrecklich, wenn er einem fern ist.» Bei aller Verzweiflung über den fernen Gott, sie ist entschlossen, ihre Hoffnungen weiterhin auf ihn zu setzen. Auch wenn die Herrschaft der Nationalsozialisten sich immer weiter ausbreitet: Im Juni 1941 hat Deutschland die Sowjetunion überfallen. Im Gefolge dieses Krieges wird von den Deutschen der Völkermord an Europas Jüdinnen und Juden endgültig organisiert und durchgeführt. In Deutschland schauen die einen weg, andere bereichern sich am Besitz der Ermordeten.

Zeichnung von Sophie Scholl von ihrer Schwester Inge. Institut für Zeitgeschichte München. © 2021 manuel aicher, dietikon (schweiz).

Im Juni 1942, Sophie Scholl kann endlich in München Biologie und Philosophie studieren, fühlt sie sich noch oft «tot und stumpf». Aber Gott hat Konturen angenommen und ein offenes Ohr. Sie schreibt in ihr Tagebuch: «Ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. […] und ich bin glücklich bei dem Gedanken, dass Er es ist, der alles regiert.»

Könnte es sein, dass Sophie Scholls selbstkritisches Ringen um einen gnädigen Gott zusammenhängt mit der Schuld, die auf ihrer Seele lastete? Dass es am Ende der Glaube an Gottes Gnade war, der Sophie Scholl aus ihrer Verzweiflung und dem Gefühl, unterzugehen in dieser Schuld, erlösen konnte? Es gibt keine Antwort darauf, aber ihre Notizen bezeugen, dass Sophie Scholl in der kurzen Zeit, die ihr bleibt, dem fernen Gott näher kommt, dass sie wieder beten kann und ihr unruhiges Herz langsam Ruhe findet.

Freiheit und Gnade

Am Jahresende 1942 lebt Sophie Scholl in extremer Anspannung. Sie weiß, dass sich ihr Freund Fritz Hartnagel als Soldat in aussichtsloser Situation im Kessel von Stalingrad befindet. Dem Freund schreibt sie tröstend von ihrer Zuversicht: «Du weißt ja, was ich für Dich wünsche. Dies alles lege ich in die Hand, die unsere ohnmächtige Liebe mächtig werden lässt. […] ich weiß ja, dass Dich der Gedanke an den, der Dich führt, ruhig machen kann.»

Am 25. Januar 1943 bringt Sophie Scholl in ihrem Rucksack Flugblätter, die im Namen der Weißen Rose zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrufen, mit dem Zug nach Augsburg und Ulm. Vier Freunde, alle Studierende –  Sophie und Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf – haben sich zur heimlichen Herstellung und Verbreitung von Flugblättern entschlossen. Sie wollen vor allem die Studierenden aufrütteln, sich dem sinnlosen Krieg zu verweigern, «den Hitler nicht mehr gewinnen kann». Sie fordern «Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses» und den «Schutz des einzelnen Bürgers» vor verbrecherischer Willkür. Es sind lebensgefährliche Worte und Aktionen, zu denen die jungen Menschen bereit sind. Als Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 die letzten Flugblätter der Weißen Rose in der Münchner Universität verteilen, werden sie verhaftet, in das Gestapo-Gefängnis gebracht und langen Verhören unterworfen.

Drei Tage später bekommt Sophie Scholl in ihrer Gefängniszelle die Anklageschrift. Das Todesurteil ist längst beschlossen. Am 22. Februar 1943 wird Sophie Scholl um 17 Uhr im Gefängnis München-Stadelheim mit der «Fallschwertmaschine» – so die Eindeutschung der Guillotine – hingerichtet. Im Protokoll für die Akten steht: «Die Verurteilte war ruhig und gefasst.»

Sophie Scholls Vertrauen in einen gnädigen Gott, der ihr nahe ist bei aller Ferne, ist ein Glaube, der sich – in der Nachfolge Martin Luthers – nicht mit dem privaten Seelenheil begnügte. ‹Von der Freiheit eines Christenmenschen› heißt eine von Martin Luthers wichtigsten Schriften. Ausführlich erklärt er darin das widersprüchliche Verhältnis zwischen dieser Freiheit und der Gnade Gottes, die durch keine menschliche Aktivität erlangt werden kann. Wer aber glaubt, sich nicht um die Not der Menschen kümmern zu müssen, weil Gottes Gnade es schon richten wird, dem sagt Martin Luther in dieser Schrift: «So lieber Mensch, geht das nicht.»

Dietrich Bonhoeffer, der protestantische Theologe, der seinen Widerstand gegen das braune Unrechtsregime wie Sophie Scholl mit dem Leben bezahlte, nennt eine so verstandene Gnade ganz im Sinne Martin Luthers eine «billige Gnade».

Sophie Scholl war beides teuer, die Gnade Gottes und die Freiheit eines Christenmenschen. Die Spannung zwischen diesen beiden extremen Polen hat sie nicht gelähmt, sondern zur Klarheit befähigt und zu einer Tat ermutigt.

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