Wert und Kunst des Fragens

Die leisen Fragen unseres Herzens sind oft von einer Flut von Antworten überschüttet. Doch was geschieht, wenn wir zu lauschen beginnen? Welche existenziellen Fragen bewegen den Menschen und wohin führen sie uns? Sechs anthroposophische Autorinnen und Autoren plädieren für aufrichtiges Fragen und Zuhören.


Lesende können sechs Hinwendungen zu jener Art des Fragens finden, die einen Raum aus Stille braucht und in die Innerlichkeit führt. Die Texte sind so eigen wie ihre Urheber selbst. Der Prozess des Fragens und Lebensfragen werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Mathias Wais gibt den Einstieg und wählt dafür die Form des Gesprächs selbst. Ein Pastor und eine Seelsorgerin suchen (in einem fiktiven Gespräch) Sinnfragen an den Orten ihrer Entstehung auf: vom Kindergarten bis zur Alten-WG. Deutlich wird, der Mensch ist seinem Ursprung nach ein Fragender. Leicht und frei entspinnt sich das herzliche Gespräch und regt die innerliche Beweglichkeit an. «Vor der Frage kommt das Staunen», sagt der Autor und spricht sich gegen vorschnelle Antworten aus. Wenn wir vor einem Kunstwerk stehen, sei die blödsinnigste Frage: Was will uns der Künstler damit sagen? Frage lieber: Was bewegt das Werk in mir?

Wolfgang Schneider gelingt ein philosophisches Hintasten zur Frage selbst und ihren Prozessen. Der Archäologe erinnert sich an einen scheinbar zufälligen Fund. Aber war es Zufall? Denn ohne Hinwendung keine Frage. Wie wir Fragen in uns finden müssen, wie wir ihnen entgegenirren ins Ungewisse und schließlich eine Bewegung vom Ich zum Du vollziehen, ist in diesem Text sehr schön gegriffen.

Der sehr sorgfältig elaborierte Text von Philipp Kleinfercher, der die Meisterschaft des Fragens in der Adoleszenz fokussiert, endet mit einem Zitat höchster Kraft, das ich lange in meinem Herzen bewegt habe. Rainer Maria Rilke rät «[…] die Fragen selbst lieb [zu] haben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antworten hinein.»

Donata Simon schreibt voller Feingefühl und Empathie. Ihr Text wendet sich dem Herzraum zu. Wenn in den Krisen des Lebens die Seele fragt: ‹Wer hilft mir?›, beginnt der innere Weg. Aus der Frage nach dem Innen geht der Schlüssel zu uns selbst und zur Welt hervor. Die Heileurythmistin und Therapeutin baut dabei auf die Kraft des Gebets, die die eigene innere Arbeit zu erheben vermag.

Warum geraten wir wiederholt in Situationen, die wir selbst nicht lösen können? Donata Simon beschreibt, wie das Ideal, ein guter Mensch sein zu wollen (als Form der Vorstellung und Wertung), in solchen Prozessen mitunter hinderlich sein kann. Über dem selbstvernichtenden Urteil über die eigene Unfähigkeit, den Konflikt aufzulösen, leuchtet die Erkenntnis auf, die Aufschluss gibt, über das eigene Selbst und das Selbst des Gegenübers. Eine Geste des Annehmens.

Auch die aphoristische Annäherung an das Fragen des Priesters Mariano Kasanetz gibt Zuspruch, uns die großen Fragen selbst zu stellen. Zu fragen, bedeutet reden, um schließlich zuzuhören. Der gebürtige Argentinier entwickelt seine Wiedergewinnung der Frage an biblischen Texten und beschreibt dabei eindrucksvoll und sprachlich geschmeidig seine Meditationspraxis als inneren Erkenntnisweg, als Prozess der Resonanz mit sich selbst. Im Zentrum des Fragens sieht er das Bedürfnis des Menschen, das Erlebte in einen Sinnzusammenhang mit seiner individuellen Geschichte zu setzen. Leben heißt, sich mit Fragen auf den Weg zu machen, sie wie einen offenen Kelch durchs Leben zu tragen, um eines Tages Antworten zu finden, die den Kelch füllen.

Susanne Gödecke gibt Anregungen zum Umgang mit den letzten Fragen. Wie wünsche ich mir meinen eigenen Tod? Wie kann ich geliebten Verstorbenen nahe bleiben? Dabei charakterisiert sie den Tod selbst als wohl größten Fragesteller. Er führt jeden Einzelnen zu seinem Wesenskern. Im Fragen, so Gödecke, lebt auch der Wunsch, sich in die Zukunft hinein wandeln zu wollen.

Das Buch war mir eine lieb gewonnene Begleitung in Phasen innerer Arbeit. Manche meiner Fragen konnte ich wiederfinden bzw. ich konnte spüren, dass sie da sind. Auch manch leisen Anklang einer Antwort fand ich auf meine Herzensfragen. Ganz ohne Google.


Buch Joachim E. Keding (Hg.) Wert und Kunst des Fragens – Sechs Sensibilisierungen, Susanne Gödecke. Philipp Kleinfercher. Donata Simon. Mariano Kasanetz. Wolfgang Chr. Schneider. Mathias Wais. Gesundheitspflege initiativ, Esslingen 2024

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare