Ein Gespräch mit dem Traumatherapeuten und Arzt Martin Straube über seinen Einsatz in der Ukraine. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Wie sieht deine Tätigkeit in der Ukraine aus?
Martin Straube Wir bilden Erwachsene zu Traumapädagogen aus. Wir fahren nach Krakau und Lwiw und veranstalten dort eine Aus- und Weiterbildung in acht Modulen. Ab Herbst wird es weitere Einsätze geben. Im August werden wir Waldorflehrer aus der ganzen Ukraine fortbilden, aus mehreren Städten mit Waldorfinitiativen liegen Anfragen vor. Wir haben die Menschen kennengelernt, großartige Menschen. Jetzt wollen wir eigentlich nach Kiew, das ist wegen des Bombenhagels aber schwierig. Da planen wir einen nächsten Einsatz mit einem größeren Team, denn auch die Kunsttherapeuten dort wollen eine Weiterbildung. In Odessa wird wahrscheinlich auch etwas entstehen. Also werden wir ab Herbst immer häufiger in der Ukraine sein. (Inzwischen waren wir in Kiew, Iwano-Frankiwsk und Horodenka.)
Wer gibt die Kurse?
Meine Frau Mika und ich und manchmal unterstützen uns Kunsttherapeuten. Jetzt haben wir eine Heileurythmistin dabei. Mika unterrichtet die Gesprächstechniken und ich bin für den inhaltlichen Input zuständig.Weitere Einsätze (z. B. Kiew) werden mit einem multiprofessionellen Team durchgeführt.
Wer kommt in die Fortbildungen?
In Lwiw sind das in der Mehrzahl Psychologen und Psychologinnen, die aber eher Streetworker und Sozialarbeiterinnen sind. Überraschenderweise haben die meisten bisher nichts von Traumatherapie gehört. Das Wort ist fremd in diesem Land, geschunden erst von Stalin, besonders durch den ‹Holodomor›, die Hungerkatastrophe, dann von Hitler, dann durch Tschernobyl und später durch die Vorgänge auf dem Maidan. Die Teilnehmenden sind auf jeden Fall hochgradig engagiert. Wenn sie nach einem Modul dann wiederkommen, erzählen sie in der Anfangsrunde begeistert, was bei der Arbeit mit den Kindern zu erreichen ist. Unter den Teilnehmenden ist eine Frau, die mit Soldaten arbeitet, die Arme oder Beine verloren haben. Sie bringt eine solche Dynamik in unseren Kurs. Das ist einfach so herzergreifend, dass wir jedes Mal beschenkt zurückkommen.
Was ist die Kernbotschaft, die ihr vermittelt?
‹Was ist ein Trauma?› Wie erkennen wir Traumafolgestörungen und wie können wir aus dem, was wir da wahrnehmen, ein pädagogisches Handeln ableiten? Ich habe eine Menschenkunde, die ein bisschen schwarze Ränder unter den Fingernägeln hat, die hat sich für mich weiterentwickelt. Das, was wir den ‹physischen Leib› nennen, ist ja nicht der Leib. Der Leib besteht ja aus vier Wesensgliedern. Mir würde ja auffallen, wenn du jetzt zum Beispiel nicht leben würdest – jetzt lachst du sogar, so merke ich, dass du beseelt bist! Die physische Organisation gibt dem Festigkeit und Stabilität und Grenzen. In der Seele passiert das auch, dass wir Eindrücke als Erinnerung festhalten können, uns orientieren können, zuverlässig sind und auch unsere seelischen Grenzen haben. Das ist die gleiche Kraft. Und wenn wir merken, dass diese Stabilität instabil geworden ist, dann müssen wir stützen. Wenn die Lebenskräfte, die auch in der Aufmerksamkeit leben, wenn die nicht da sind, dann muss ich schützen. Wenn die Seele außer sich ist, der Astralleib wirbelt, dann muss ich konfrontieren – ich finde das Wort ‹ordnen› besser. Wenn das Ich nicht eingreifen kann, wenn Ziele, Motivation und Identität verblassen, müssen wir fördern. Ich benutze die Begriffe von Heinrich Fallner, der die vier Interaktionsmöglichkeiten formuliert hat. Da üben wir dann auch mit Ritualen.
Die ganze Psychotraumatologie schaut immer aufs Gehirn, auch die anthroposophische Literatur, die es dazu gibt. Du kannst ebenso auf das rhythmische System schauen, du kannst die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Stoffwechselvorgänge und den Willen lenken! Dass in den USA mehr Soldaten nach dem Vietnamkrieg an Suizid gestorben sind als durch Kriegshandlungen selbst, das zeigt doch, dass die ganze Lebensmotivation leidet. Das ist der Wille, und der Wille sitzt nicht im Kopf. Und wie kann man ihn fördern? Wie können wir den Rhythmus wieder ordnen? Mit pädagogischen Maßnahmen, also mit Tagesstruktur, rhythmischen Spielen, Wechsel von Aktivität und Ruhe. Das gehen wir differenziert durch, üben das Gelernte und gehen dann auf Besonderheiten der Psychotraumatologie, auf Dissoziationen ein. Welche Bedeutung haben Worte? Bessel van der Kolk, der niederländische Traumatherapeut, sagte: «Das Trauma ist ein Gefängnis und der Fluchtweg ist mit Worten gepflastert.» Also: Wie spreche ich stützend, wie spreche ich schützend, wie konfrontierend oder fördernd? Das sind alles Themen, um die es geht.
Was ist in der Ukraine anders als im Irak oder im Gazastreifen?
Die Gegenden, in denen wir sind, sind friedliche Gegenden. Du merkst kaum, dass hier Krieg herrscht, wenn du nicht gerade von Militärkonvois überholt wirst. Manchmal ist auch Luftalarm, aber da kümmert sich kein Mensch drum, weil es in den Gegenden, in denen wir sind, keine militärische Infrastruktur gibt. Jeder hat auf seinem Smartphone die Luftalarm-App. Wenn eine russische Rakete steigt, dann wird ihr Zielpunkt errechnet und dort Luftalarm gegeben. Wir haben auch Teilnehmende aus Charkiw. Die haben direkte Kriegserfahrung und es gibt niemanden, der in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft nicht jemanden zu beklagen hat, der gestorben ist. Da merkst du: Hinter der Fröhlichkeit sind traurige Augen und sie beschreiben: Der Akku wird langsam leer. Unsere Treffen sind Momente, wo sie ihren Akku aufladen können.
Noch ein Unterschied der Arbeit in der Ukraine: Während sich für die Türkei viele Traumapädagogen und -pädagoginnen melden, ist es schwierig, solche für die Ukraine zu finden. Das mag daran liegen, dass die Leute Angst haben. Zumal jetzt, da vermehrt Bomben fallen. Ich glaube auch, dass Naturkatastrophen eine andere Bereitschaft hervorrufen.
Kannst du ein Erlebnis schildern, das für dich die Arbeit in der Ukraine ausmacht?
Berührend ist für mich immer, diese Menschen zu treffen, die unsere Erklärungen und Hinweise aufsaugen und sofort in die Tat umsetzen und zugleich untereinander hilfsbereit sind, sich gegenseitig unterstützen. Wir haben eine große Alukiste mit Materialien zur Traumapädagogik einer Frau gegeben. Dann brauchte sie eine zweite und dritte, weil sie nicht nur in dem heilpädagogischen Heim, in der heilpädagogischen Schule in Charkiw arbeitet, sondern sofort, wenn irgendwo eine Bombe gefallen ist, mit der Kiste dort hingeht und die Kinder um sich sammelt. Inzwischen sind da ganze Gruppen entstanden. Engagement haben wir überall erlebt, in Gaza, im Irak, aber in der Ukraine ist das noch mal intensiver und das berührt mich zutiefst. Selten habe ich den Eindruck gehabt, etwas zu tun, was so fruchtbar ankommt und so direkt in die Tat umgesetzt wird, sodass ich mich immer frage: Wer lernt hier von wem?
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