Im antiken Delphi konnte sich ein Sklave freikaufen. Er konnte selbst als symbolischen Preis eine Münze im Tempel niederlegen und bekam daraufhin auf einen kleinen Stein gemeißelt eine Freilassungsbestätigung, auf der zu lesen war, dass er nun Apollon gehörte beziehungsweise frei war.
Die Botschaft von Delphi lautet also: Hier gibt es keine Sklaven und keine Herren – nur Menschen. Die Möglichkeit, sich selbst zu befreien, gilt in Delphi natürlich für alle Menschen. «Erkenne dich selbst.» Dieser Aufruf von Delphi, sich über seine Motive klar zu werden, ist ja nichts anderes als der Aufruf, ein freier Mensch zu werden. So schreibt Rudolf Steiner in der ‹Philosophie der Freiheit›, es gehe bei der Freiheit darum, zu verstehen, warum ich etwas will – nicht machen, was ich will, nicht wissen, was ich will, sondern wissen, ‹warum› ich will.
Deshalb ist das Versprechen von Delphi: «Hier wirst du ein freier Mensch» nicht auf die Sklaven beschränkt. Apollon Eleuterios, Apollon der Befreier, hieß es aber nicht, es hieß Dionysos Eleuterios. Auf Dionysos, auf Apollons Bruder, der im Winter in den Apollontempel einzog, führte man die Kraft der Befreiung zurück. Delphi ist deshalb ein Apollon-Dionysos-Heiligtum. Alles, was mit der Weisheit, der Geschichte und der Kunst zusammenhängt, das kommt von Apollon. Alles, was das als Wirkung hervorzubringen in der Lage ist, vor allem die Selbstbefreiung der Seele, führte man auf Dionysos zurück. Die Idee einer Menschlichkeit wurde durch diese Spanne zwischen Apollon und Dionysos gepflegt.
Gekürzt aus: Weltgeschichte im Lichte der Anthroposophie, Nr. 12.