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Weihnachten und das Mariengeheimnis der Gegenwart

Weihnachten ist ein Fest der Gegenwart, weil es mit der Geburt ein Urbild in seiner Mitte trägt, weil es die Ströme der Unschuld und der Strenge vereint, weil es drei Messen kennt: die Messe der Nacht, der frühen Morgenstunde und die Messe ‹am hellen Tage›.


Liebe und Unschuld waren für Jean Paul die entscheidenden Erkennungszeichen des Christlichen. Diese beiden hohen Merkmale treten besonders deutlich am Beginn des Lebens, in der Kindheit auf. Es sind dieselben Zauberkräfte, die auch mit dem Weihnachtserleben verbunden sind. Durch nichts und niemanden sind sie aus der Welt zu bringen, so sehr der Drache auch immer raffinierter und immer neu gegen sie zu Felde zieht. «Und immer zirkuliert ein frisches, neues Blut, so geht es fort, man möchte rasend werden», klagt Mephisto dieser Tatsache gegenüber. Und ‹alle Jahre wieder› wird trotz vieler Widerstände Weihnachten. Was sich dann in diese Tage und Nächte hineinwebt zwischen Himmel und Erde, ruft Sehnsucht in vielen Menschen hervor, die oftmals durch das Laute und Grelle übertönt wird. Sie ist häufig tief unbewusst und wirkt auch in Verlust und Mangel unerfüllter Wünsche. Vielleicht ist sie der tiefere Grund dafür, dass in einer Stadt wie Berlin vor wenigen Jahren noch die Heilige Nacht die Zeit der meisten Suizide gewesen ist. Ebenso gibt es einen möglicherweise nächtlichen Bereich in jedem Menschen, wo immer, selbst wenn seine Biografie noch so katastrophal verlaufen ist und ihn vielleicht sogar hinter Gitter geführt hat, eine Keimzelle erhalten bleibt, wo er unschuldig ist. Daran wieder anzuknüpfen, zu zukünftigem Leben, ist immer möglich. Welche homöopathische Substanz muss da in das Wesen des Menschen hineingeträufelt worden sein, um das zu bewirken, und wie oder wann ist das geschehen?

Es gibt auf der Welt kein gültigeres Weihnachtsbild, auch keinen tieferen Ausdruck von Liebe und Unschuld als in der Madonna mit dem Kind auf dem Arm. Dieses meist gemalte Bild aus den Evangelien des Neuen Testamentes bringt aus sich selbst ein drittes Kriterium, eine dritte Kraft hervor: Es ist die Schönheit, welche diesen Bildern die Aura des Geheimnisvollen verleiht. Den Inhalt dieses Geheimnisses kennt niemand, auch die Bewohner der Reiche der Himmel nicht, denn er liegt in der Zukunft und ist mit dem verbunden, was aus dem Menschen in Freiheit und aus ‹gutem Willen› werden kann.

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Den Inhalt dieses Geheimnisses kennt niemand, auch die Bewohner der Reiche der Himmel nicht, denn er liegt in der Zukunft und ist mit dem verbunden, was aus dem Menschen in Freiheit und aus ‹gutem Willen› werden kann.

Im Grunde kann es nicht erstaunen, dass beide, das unschuldige Kind und die reine Magd, seine Mutter, immer wieder im Lauf der Geschichte bis in unsere Gegenwart ‹missbraucht› werden. Alles Unschuldige zieht in besonderer Weise jede Art von ‹Liebe› an. So auch die Jungfrau Maria, als Anziehungskraft aller Bedürftigen, die wie das Gretchen im ‹Faust› ihre Nöte und Verzweiflungen, sicher oft zurecht, aber manchmal auch in selbstbezogenen Bedürfnissen, als Schwere und Belastungen diesem reinen Wesen aufgebürdet haben. Das zeigt sich als religiöser Egoismus, der in erster Linie mit zwei Bitten verbunden auftritt: ‹Gib mir bitte› oder ‹verhindere doch›, dazu noch weihrauchartig aufsteigende Wolken von Sentimentalität. Dieses so Beschriebene ist der eine Widersacher, der sich hier geltend macht, aber den anderen kann man gut erkennen. Er stilisiert hier eine Frau in einer fast unmenschlichen Unerreichbarkeit, Heiligkeit, die als moralische Forderung und Überhöhung des Menschlichen zu dem Gedanken der unbefleckten Empfängnis geführt hat. Kein Wunder, dass hier Unwahrhaftigkeit und Schuldgefühle entstehen, wenn das als strenges Vorbild gelten soll.

Zwei große Imaginationen der Menschenseele, eigentlich der Menschheitsseele, die jeder repräsentiert, gleichgültig ob als Mann oder als Frau, werden in den beiden Weihnachtsgeschichten beschrieben. In genial offenbarer Verborgenheit ist der doppelte Marienaspekt bei Matthäus und Lukas enthalten: in der Lieblichkeit und in der Strenge. Mit dem weihnachtlichen ‹guten Willen› sind sie in ihrer Unterschiedlichkeit auch ohne Anthroposophie zu erkennen: Das unschuldige Wesen des Jungfräulichen, das die Möglichkeit hat, zu empfangen, ist die Mutter des nathanischen Jesus aus dem Lukasevangelium. Trotz alles Wunderbaren und Zauberhaften dieser Geschichte ist doch auch deutlich, dass dieses Kind nicht ins Paradies kommt, sondern zur Erde geboren wird. Es kommt in die Fremde, in die Nacht, dort, wo es eigentlich keinen Raum für dieses Wesen gibt. Wegen der angeordneten Volkszählung, durch deren Statistik eine Art Todeshauch zum ersten Mal unter die Menschen gebracht wurde, wird das deutlich. Spätestens hier zeigt sich, dass die lukanische Weihnachtsgeschichte nicht eine reine, weltabgewandte Idylle ist.

Die andere Maria, die Mutter des salomonischen Kindes, muss mit noch ganz anderen Finsternissen kämpfen. Der Kindermord, den Herodes anordnete, und die danach erfolgende Flucht nach Ägypten muten ziemlich modern in unserer Gegenwart an. Da wird es richtig Nacht, wo man bei Lukas von der Heiligen Nacht spricht.

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Es gibt einen nächtlichen Bereich in jedem Menschen, wo, selbst wenn seine Biografie noch so katastrophal verlaufen ist und ihn vielleicht sogar hinter Gitter geführt hat, eine Keimzelle erhalten bleibt, wo er unschuldig ist.

Die Verbindung und Vereinigung dieser beiden Strömungen, die in den Weihnachtsevangelien beschrieben werden, erscheint noch heute äußerst aktuell: der reinen Menschenliebe zwischen Mutter und Kind einerseits und andererseits der geforderten Überwindungskraft und Erstarkung in der Begegnung mit den mörderischen Herodeskräften. Das Ausgesetztsein der Welt der Finsternis und des Bösen einerseits neben der Erscheinung des unschuldig schlafenden Kindes der ebenfalls unschuldig reinen Mutter, beide Bilder und wirkenden Tatsachen sind tief eingewoben in das Karma der Welt. Sie gehören zusammen wie Reinbleiben und Reifwerden im Mysteriendrama des werdenden Menschen. Sie erwecken ‹alle Jahre wieder›, ob auf Bildern, im Wort oder im Augenblick erlebter Begegnungen, in der ganzen Welt Sehnsucht, die rätselhafte Weihnachtssehnsucht.

In einer schon seit dem hohen Mittelalter praktizierten Art hat sich in der Kirche etwas von diesen Geheimnissen bis in den Kultus hinein abgebildet: in der dreifachen Weihnachtsmesse, in der katholischen Kirche Engelamt (Mitternacht), Hirtenamt (frühe Morgenstunde) und Menschenamt (am hellen Tage) genannt. Auch in dem durch Rudolf Steiner vermittelten erneuerten Kultus kommt dieses Trinitarische im Weihnachtsfest zur Geltung, in welchem sich die doppelte Marienwesenheit jedoch in ein drittes Element steigert. In der Mitternachtsstunde des Heiligen Abends ist das Matthäusevangelium angeordnet, der Blick fällt auf das ältere Elternpaar Maria und Joseph. Der Vater wird da in seiner Wichtigkeit dadurch betont, dass die Engeloffenbarung an ihn ergeht, nicht an die Mutter. Hier ist kein Jubel und Preisgesang, sondern eine eher strenge, ernste Stimmung, die zur Erkenntnis aufruft mitten in der Nacht der ‹Sinnenfinsternis›. Die Morgenstunde des Sonnenaufgangs bringt mit dem aufsteigenden Licht die Lukas-Aura hervor, ‹die› Weihnachtsgeschichte als die jungfräulich erzeugte Kraft aus dem Sprachquell des Logos, die heilend in das Wortwirken des Menschen hineinströmt. Im dritten Schritt, im Licht des vollen Tages, kann erlebt werden, wie das Marianische dann schon ganz eingetaucht ist in die menschliche Seele: Weihnachten nach Art des Angelus Silesius, das allgemeine ‹Maria-Werden› des Menschen, hat begonnen. Hier ertönt das Zukunftsevangelium, Joh. 21. Die Szene des Morgenmahles am See Genezareth, in welcher der Auferstandene der schuldig gewordenen Menschenseele in Petrus begegnet, der seinen Herrn dreimal verleugnet hat. Dreimal ergeht die Frage an ihn: ‹Hast du mich lieb?› und dreimal erhält er eine Zukunftsaufgabe: ‹Weide meine Lämmer› – die vielleicht hilfreichste Form der Vergebung, eine neue Aufgabe. Der Jünger kann sein Karma wieder ergreifen. Es ist in ihm Hoffnung gezeugt worden. So geht die Sonne des Geistes über dem Werden des Menschen alle Jahre wieder neu auf. Der Geist der Maria in jedem, die Sophia.


Zu den Bildern: Barbara Schnetzler Geist erinnern, Geist besinnen, Geist erschauen, Aquarell, 25 × 25 cm, August, Oktober 2015
«Menschenseele, du lebest in den Gliedern, lebest im Herzen-Lungen-Schlage, lebst im ruhenden Haupt.» – Diese im Grunsteinspruch Rudolf Steiners genannte dreifache Beseelung des Körper hat Barbara Schnetzler zum Ausgangspunkt ihrer Aquarelle genommen. Die Beseelung des Körpers ist zugleich das Weihnachtsereignis.

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