Was bestimmt die Form des Herzens? Die Antwort, die in einem wissenschaftlichen Artikel gegeben wird, lautet «der Wirbelring»1. Viele Lesende werden jedoch noch nie von dieser seltsamen Erscheinung gehört haben.
Das Schöne an dieser Antwort ist, dass es sich bei dieser Form – was die meisten nicht wissen – um eine der grundlegenden Strömungsformen handelt, die der Strömungslehre spätestens seit Leonardo da Vinci bekannt sind. Was bestimmt die Form des sich entwickelnden Embryos? Hier werden wieder Wirbel wichtig, vermutet Theodor Schwenk in seinem Klassiker ‹Das sensible Chaos›2. Gibt es ein Wesen, das nicht aus dem Strömenden entstanden ist? Das Buch ‹Wasser bewegt›, das kürzlich in einer erweiterten Auflage neu erschienen ist, will die Leserschaft durch die Urphänomene der Metamorphose führen, ihre vielfältigen Zusammenhänge in Natur und Technik aufzeigen, einfache Experimente beschreiben und ihre Verflechtung und Beziehung zur Lebenswelt deutlich machen. Es leuchtet vor allem durch Dutzende von einfachen Experimenten, für deren Durchführung im Allgemeinen nicht mehr als Haushaltsgegenstände benötigt werden. Jeder, der mit diesen Experimenten beginnt, kann nicht anders als spielen und dabei immer mehr Details dieser so wichtigen Matrix der Metamorphose entdecken.
Das Fließende
Nun ist der Wirbel etwas, das wir zwar alle aus der Badewanne oder dem Fluss kennen, jedoch in der Fülle von Phänomenen und Experimenten erst hier schätzen lernen. Das Buch enthält weit mehr als ein Dutzend Experimente zu einer Fülle von verschiedenen Wirbelformen. Nach und nach lernen wir diese Urform des fließenden Wassers kennen, aber auch aller fließenden Materie einschließlich der Luft und sogar unserer scheinbar festen Erde: Alles Fließende ist eigentlich Wasser! Im Verlauf der Lektüre werden weitere Formen mit jeweils eigenen Besonderheiten sichtbar: Wellen, Mäander, Tropfen und Blasen in ihrer Fülle, gießende, schießende und auftreffende Wasserstrahlen, alles Phänomene, die zwar oft gesehen, aber selten wirklich gewürdigt werden, sowohl in ihrer Ästhetik als auch in ihrer Bedeutung für die Gestaltungsprozesse in Natur und Technik. Die Wirkung der Wärme auf die Strömung nimmt nun ihren Platz unter den Urphänomenen der Strömung ein. Dieses Urphänomen zeigt sich an so vielen Stellen in Natur und Technik: Wolkenbildung, Plattentektonik, Gesteinsbildung. Ein weiteres Phänomen ist das ‹Fingern›: die Durchdringung verschiedener Fluide auf engem Raum. Anstatt dass das eine Fluid das andere in einer wachsenden Scheibenform einfach verdrängt, entstehen komplex verzweigte verästelte ‹Fingerformen›. Dieses Urphänomen wird herangezogen, um die Entstehung weiterer Phänomene sowohl in der organischen als auch in der anorganischen Welt zu erklären: beim Versickern von Wasser, bei der Ausbreitung von Bakterien, Viren und Krebs, bei der Agglomeration von bisher in Lösung befindlichen Ausscheidungsstoffen, bei Wachstumsprozessen von Neuronen, Bakterien, Alveolen und Biofilmen, aber auch Kristallen, und bei verschiedenen Erosionsformen.
Die Neuausgabe des Buches geht viel mehr als die Erstpublikation auf die lebendige Natur des Wassers ein. Darüber hinaus gibt es einen völlig neuen Abschnitt, der dem Verständnis der verschiedenen Phänomene auf mathematischer Ebene gewidmet ist. Hier ist Christian Liess das bemerkenswerte Kunststück gelungen, die fast immer komplizierte mathematische Beschreibung in eine prägnante und für den Laien verständliche Form zu bringen, die zeigt, wie sich Wissenschaft und Technik mit den Launen des Wassers auseinandersetzen. Sind die wahren Urphänomene nicht eigentlich die Gesetzmäßigkeiten, die in den Gleichungen der Strömung aufbewahrt sind? Ein weiterer wichtiger Teil des Buches ist den sozialen/kommunalen Aspekten des Wassers gewidmet, verfasst von Herbert Dreiseitl (Stadtplaner) und Jennifer Greene (wasserpolitische Aktivistin).
Das Hauptverdienst gebührt jedoch Andreas Wilkens, der im Laufe der Jahre so viele faszinierende Experimente gesammelt hat. Er ist ein akribischer Beobachter von Strömungsphänomenen, souverän in der Entwicklung von Visualisierungstechniken, mit denen Fotos aufgenommen werden können, und ein unerschrockener, ausdauernder Produzent von stets ästhetisch ansprechenden Bildern, von denen jedes eine Geschichte über eine komplexe Strömung erzählt.
Buch Andreas Wilkens, Herbert Dreiseitl, Jennifer Greene, Michael Jacobi, Christian Liess, Wolfram Schwenk (Hrsg.),Wasser bewegt: Phänomene und Experimente
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