Was sind die Zukunftskeime der Anthroposophischen Medizin?

Wir brauchen eine Medizin, die nicht nur den Leib delegiert, sondern das Menschliche, das Individuelle wieder einführt.


Auf der sonnigen Terrasse in coronagemässer Gliederung das gemeinsame Essen, wie an Deck eines Schiffes auf grosser Fahrt. Foto: Ariane Totzke.

Der Geschäftsführer einer deutschen Landesärztekammer sprach von der «transzendentalen Obdachlosigkeit» der gegenwärtigen Medizin. Dass aus einer Obdachlosigkeit wieder ein heimatmäßiges Vertrautsein in der Medizin entstehe, dass das Geistige in seinem gesunden Einfluss auf den Leib wirken und durch unser Bemühen unterstützt werden kann, ist ein Zukunftsimpuls. In dem gemeinsamen Wollen und Zusammenwirken von Rudolf Steiner und Ita Wegman ist das Buch ‹Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst› entstanden. Man hat das Gefühl, dass in dem Buch ein Samenkorn liegt für eine Vermenschlichung der Medizin. Das Wort ‹Ich-Organisation› kommt auf den 140 Seiten 211 Mal vor: der Mensch im Mittelpunkt. Das ist ein großer Zukunftsimpuls. Wie führen wir wieder das menschliche Prinzip, das Geistwesen des Menschen in die Medizin ein? Patientinnen sprechen nicht von dem Leib oder Körper, den man in ein diagnostisches Verfahren hineinführt, sondern von ‹meinem› Körper. Sie erleben diese innere Beziehung des Ich-Wesens zum Leib. Einer der Kernsätze im oben genannten Buch heißt: «Bis in die kleinsten Teile seiner Substanz ist der Mensch seiner Gestaltung nach ein Ergebnis der Ichorganisation.» Und wie wirkt der Geist gesundend? Wie wirkt dieses Ichprinzip in der menschlichen Begegnung zwischen Ärztin und Patientin? Der Patient spürt, wie er angeschaut wird: ob als Wesen oder befundzentriert. Wie bringt eine Therapeutin Licht in das Geheimnis von Beschwerden? Wie wird eine individuelle Beziehung aufgebaut, die nicht nur zu dem führt, was wirksam ist, sondern zu dem, was gut ist. Die Frage, wie ich das Gute finde, aus einer Wärmebeziehung zum Patienten gestellt, ist die nächste Ich-Ebene. Die Patientin entfaltet einen Willen, der sich darin artikuliert, gesund werden zu wollen. Dasjenige, was wir an therapeutischem Willen entwickeln, führt reflexartig, so Steiner, zu einer Verstärkung des Willens zum Gesunden. Dieses Zusammenwirkende, das therapeutische Willenskraft in eine wärmegetragene Beziehung zum kranken Menschen hineinstellt, entwickelt sich zum Gesundwerdewillen, wo Wille in Wille lebt. Seelisch ringt der Patient um Sinn und Perspektive. Er ist auch hier darauf angewiesen, Wärme zu erfahren und getragen zu werden. So viele Krankheiten gehen mit Furcht einher. Wir spüren an jeder Schwelle unseres Lebens die Frage nach dem Sinn. Wie überwinde ich lähmende Furcht und Angst? Was bildet Brücken zum anderen Menschen? Auch dort geht es darum, wie sich Ich-Aktivität entwickelt. Wie wirkt dieses Ich im Gesundwerden? Wir alle kennen ätherisch-lebendige Kräfte, die heilen. Auch die innere Gestimmtheit unserer Seele ist mit dem Heilen verbunden. Alles Heilen ist nicht nur eine Frage an das Leben, sondern auch an die Seele des Menschen. Wenn Menschen Trauer empfinden, heilen Wunden schlechter. Wir brauchen die Seelenperspektive, aber wir brauchen auch die Ich-Perspektive. Wir brauchen eine Heilkunst, die mit dem Ich des Menschen rechnet.

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