Vieles, was uns in der Welt begegnet, ist nicht so, wie es scheint. Doch oft braucht es eine längere, auch schmerzensreiche Zeit, bis wir das merken. Es gibt aber auch begnadete Augenblicke des Lebens und begnadete Menschen, die nicht so lange auf ihre Aufklärung warten müssen.
Jacques Lusseyran ist solch ein begnadeter Mensch gewesen. Mit acht Jahren erblindete er. Aber in dem Augenblick, in dem er sein Augenlicht verlor, machte er eine lebenswendende Entdeckung: In seinem Innern fand er das Licht unversehrt wieder. «Das Licht war da, begleitet von allen sichtbaren Formen, Farben und Linien, ausgestattet mit derselben Kraft, die es in der Welt der Augen hat», erzählt er in seinem Buch ‹Ein neues Sehen der Welt› und mit ähnlichen Worten auch in seiner Autobiografie ‹Das wiedergefundene Licht›. So nennt er sich glücklich: «Das Blindsein ist mein größtes Glück! Das Blindsein gibt uns ein großes Glück; es gibt uns eine echte Chance sowohl durch die Unordnung wie auch durch die Ordnung, die es schafft.» Jacques Lusseyran, der als junger Widerstandskämpfer am 20. Juli 1943, keine 20 Jahre alt, von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert wurde, erlebt im Schicksalsschlag der Erblindung die Gnade der gleichzeitigen Unordnung und Ordnung: «Die Unordnung, das ist das Schnippchen, das es einem schlägt, die leichte Verschiebung, die es bewirkt: Es zwingt uns, die Welt von einem anderen Punkt aus zu sehen. Eine notwendige Unordnung!»
Aus Jean Claude Lin, Das A und O des Lebens – Vom innerlich werdenden Menschen. Stuttgart 2020.
Grafik Sofia Lismont