Die Frage ist, wie man heute wahres soziales Menschenverständnis erlangt, das heißt wie man lernt, den anderen oder die andere in seiner oder ihrer Eigenart gewähren zu lassen, zu schätzen, sich wirklich für ihn zu interessieren und sie trotz der Unterschiede gerne zu haben, was man ja von der andren Person ebenfalls erwartet.
Wir kommen da zu einem gerade in der heutigen Zeit wichtigen Punkt. Als moderner Mensch sind wir von einem ‹Vorurteilsdoppelgänger› durchsetzt, der uns als eine Art ‹Mephisto› begleitet und unsere seelischen Gewohnheiten weitgehend beeinflusst. Ähnlich wie andere Menschen Projektionsfiguren, also Spiegel unserer eigenen uns nicht bewussten Schattenanteile sein können, müssen wir heute verstehen, dass in vielen Fällen aus mangelndem Menschenverständnis, Lieblingsmeinungen, Sypmpathie und Antipathie geurteilt und erkannt wird – also aus vorgefassten Meinungen, die sich meist von selbst einstellen. Dabei kann man auch die Tatsache beobachten, dass sich das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Urteil umzudrehen beginnt. Meist kommt das Urteil zuerst und die später gemachte Wahrnehmung hat kaum mehr eine korrigierende Wirkung.
Aus: Olaf Koop, Das Ich und sein Doppelgänger. Zur Psychologie des Schattens, S. 167, Stuttgart 2014.
Grafik: Sofia Lismont