Jede Steigerung, jede wahre Höherentwicklung des Organismus kann nur erreicht werden, indem dieser sich selbst wieder entwächst. Jeder Ausdehnung folgt eine Zusammenziehung. Der Auferstehung des Blattes in Form der Blütenkrone muss die Rückbildung des Sprosses in Hochblatt und Kelch vorausgehen.
Die schönste Blüte hinwiederum wäre zur Unfruchtbarkeit verurteilt, wäre sie nicht bereit, im Staubgefäß ihr Eigenwesen ‹hinzuopfern›, sich ‹in Staub aufzulösen›. Ein tiefstes Geheimnis des Lebens leuchtet für Goethe auf: Es gibt kein wahres sich vervollkommnendes Leben auf Erden, keine Steigerung, ohne das Hineinverweben des Todes in den Lebensprozess. Jeder neuen Evolution auf höherer Stufe muss ein Involutionspozess vorausgehen. Im Gesamtprozess des Lebens muss der Rückbildung, dem Sterben, dem Abbau, die als Einzelprozesse betrachtet scheinbar nur negative Elemente darstellen, eine positive, die Entwicklung fördernde Rolle zuerkannt werden.
Aus Walther Bühler, Das Maß des Regenbogens. Stuttgart 1993, S. 47.
Grafik Sofia Lismont