Schläft das Gehirn wirklich in der Nacht, wenn behauptet wird, dass es die Tagesereignisse bearbeitet, integriert und Überflüssiges ‹entrümpelt›, also vergisst?
Ist es nur das Gehirn, das alles, was wir erlebt haben, in sein Oberstübchen ablagert oder entsorgt? Wie steht es mit dem übrigen Teil des Menschen, der sich dann besonders gut erinnert, wenn visuelle Sinneseindrücke oder auch Lerninhalte mit Geschmacks- und Geruchserlebnissen gekoppelt sind, oder wenn beim Gehen besser gelernt und erinnert werden kann? […] Wenn man mit dem tagsüber Geübten an eine Grenze gestoßen ist, kann man am nächsten Tag oder in der Früh oder spätestens nach zwei bis drei Tagen mit Erstaunen feststellen, dass es durch die Nacht getragen besser behalten wird oder sogar zu einer größeren körperlichen Geschicklichkeit geführt hat. Wir können dies als seelische Konsolidierung bezeichnen, die sich nur in unserer nächtlichen Abwesenheit bildet, damit wir am Tag eine Kontinuität erleben, zu der wir gewöhnlich ‹Ich› sagen: den Erinnerungsschatz, den wir durch das ganze Leben in uns tragen. Man kann nur staunen, wenn man bedenkt, dass erst durch diese allnächtliche Bewusstseinslücke die Möglichkeit besteht, Material zu sichten, es seelisch zu integrieren, das heißt aber auch mit unserer Person dauerhaft zu verbinden.
Aus: Olaf Koob, Fülle der Nacht. Vom Geheimnis unseres Schlafs. Stuttgart 2010.
Grafik: Sofia Lismont