Es geht wenig an, von ‹zwischenmenschlichen› Kräften zu sprechen, da diese Kräfte doch recht eigentlich die menschlichen sind.
Wir sehen, wie unzureichend es ist, die Begegnung mit einem anderen Menschen danach zu beurteilen, ob ‹etwas› herüberkommt, da dieses Etwas immer nur der Mensch selbst sein kann. Aber nicht der andere Mensch schlechthin ist es, dem wir in der Begegnung entgegengehen, sondern der Mensch, dem dieses oder jenes zum Inhalt seines Daseins geworden ist: sei es eine Frage, sei es eine Idee, die ihn umtreibt, oder ein Vorhaben, das ihn erfüllt. Wenn wir uns im Rückblick auf unser Leben die Frage stellen, was wir den Menschen verdanken, denen wir da oder dort begegnet sind, die uns ein Stück auf unserem Lebensweg begleitet haben, dann finden wir keine Antwort, wenn wir unser Gedächtnis befragen, ob jener Mensch uns damals sympathisch oder antipathisch war. Sondern vielmehr dadurch, dass wir uns dafür zu interessieren beginnen, wie ein solcher Mensch uns erlebte, was er an uns durchmachte. Es waren vielleicht nicht immer freuden-, sondern auch sorgenvolle Erfahrungen, die er mit uns durchmachte. Je mehr wir uns so einfühlen, umso mehr bemerken wir, dass wir gar nicht mehr so selbstverständlich im Mittelpunkt des Lebensschauplatzes stehen. Wir werden gewahr, dass wir den Menschen etwas verdanken. Wir werden gewahr, dass das, was wir ihnen verdanken, im Grunde wir selber sind. Wir verdanken ihnen unser gewordenes Selbst.
Zusammengestellt aus: Christof Lindenau, Zum Verständnis der menschlichen Begegnung, in: Freiheit erüben, Stuttgart 1991.
Foto: Paul Stender