Was meine ich mit Buch?

Es gibt ein Leben vor der Erfindung des Buches. Es wird aber sehr wahrscheinlich in der Zukunft ein Leben ohne Bücher geben. Aber schon im Leben nach dem Tode wird es keine Bücher geben.


Und da beginnt bereits mein Problem: Ich kann mir ein Leben ohne Bücher gar nicht vorstellen. Müsste ich also meinen Glauben an ein Leben nach dem Tode nicht konsequenterweise aufgeben? Ich kann mir vorstellen, dass eine Zeit kommen wird, in der Information nicht mehr über das Medium Buch vermittelt wird – die elektronischen Medien und vor allem das Internet ersetzen jetzt schon für viele Menschen das Buch als erste Anlaufstelle für Information. Wie aber wird man die Möglichkeit erhalten, in der diskreten, geschlossenen Gestalt eines Buches die alle Grenzen des eigenen Selbst übersteigenden Welten und Tiefen einer Geschichte, wie dies in einem Roman geschieht, zu erfahren. Gibt es in einer Welt, einem Leben ohne Buch und erst recht nach dem Tode etwas, das diesem Lesen eines Romans irgendwie gleichkommt?

Wenn wir einschlafen, ist es doch ein tägliches Wunder, dass wir wieder aufwachen – denn das ist keine Handlung unseres bewussten Selbst. Wie wir im Schlaf mit dem Überbewusstsein unseres Selbst in Verbindung kommen, können wir ein solches Erwachen auch im Lesen eines Buches erleben, insbesondere wenn es sich um einen herausragenden Roman handelt. Je mehr das Lesen eines Buches sich auch zum Leben mit dem Buch des Lebens gestaltet, desto mehr kann sich der Mensch in seiner umfassenden Wirklichkeit erleben.


Aus Leben mit dem Leben – zwölf Einsichten für die persönliche Entwicklung, Hg. Jean-Claude Lin, Stuttgart 2008.

Titelbild: Sofia Lismont

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