Stellen wir uns jetzt einen schönen Sonnenuntergang vor. Eine purpurrote Sonne gleitet langsam am Horizont zur Erde hin. Während hinter dem oder der Betrachtenden der Weltraum immer dunkler wird, flammt im Westen eine gewaltige Farbenpracht auf: Gelb, Gold, Rot und ganz oben ein heller Perlmuttglanz begleiten das sachte in die Tiefe sinkende Gestirn.
Wolkenschleier erzeugen im Widerschein des Lichts immer neue Farbabstufungen, und während ein leichter Wind ihn gleichsam in die Weiten mitnimmt, fühlt der Betrachtende eine Botschaft, die er jedoch nicht in Worte zu fassen vermag. Alles schweigt in ihm, in der völligen Hingabe an Farben, Licht, Luft und Wind. Er staunt und sinnt über ein Erleben, das er noch nicht ganz ergründen kann. Es ist wie eine kaum hörbare Sprache der Schöpfung, die er ahnt, und eine tiefe, freudig-religiöse Stimmung mischt sich in sein Sinnen wie ein musikalischer Unterton. Eine neue Welt des Wissens kann sich der aufmerksamen Betrachterin in den Farben offenbaren. Und schon in der Bläue des Himmels wird sie das Gesetz der Chromatik entdecken. Hat man die Fähigkeit einer wirklich vorurteilsfreien Beobachtungsgabe oder erzieht man sich eine solche an, dann versteht man, was die Weltanschauung des Phänomenalismus ist: In der reinen Anschauung eines Vorgangs oder eines Lebewesens, ja auch eines Kunstwerks, kann sich das eigentliche Wesen der Sache offenbaren.
Aus Mario Betti, Erkenntnis und Tat – Auf dem Weg der sieben Intelligenzen. Stuttgart 2014.
Grafik Sofia Lismont
Nachtrag: Vor wenigen Wochen ist Mario Betti, Autor dieses Textes, 80 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch von der Redaktion!