Die moderne Seelenstruktur unterscheidet sich in zwei Haupteigenschaften von der archaischen Seele. Einerseits ist die Richtung nach den höheren Bewusstseinsebenen unterbrochen – ein sich stets vertiefender Abgrund.
So sind nur die Ergebnisse der Erkenntnisprozesse bewusst, die Vorgänge selbst bleiben überbewusst. Andererseits wurde die Aufmerksamkeit selten individuell gepflegt. Das hat die Folge, dass ein Teil dieser Kräfte sich ins Unterbewusstsein abgespalten hat. Die oberste Schicht davon bewirkt die unwillkürlichen Assoziationen, die in die vom Ich aus gerichtete Aufmerksamkeit störend eingreifen. Da die willentliche Aufmerksamkeit vom Alltagsich ausgeht, hat die moderne Bewusstseinsschulung im Alltagsbewusstsein ihren Ausgang. In der Aufmerksamkeit ist heller Wille tätig, wie im Denken. Die intentionale, greifende Aufmerksamkeit ist schon durch die Objekte besetzt, kann also Neues nicht entgegennehmen. Dazu muss die Aufmerksamkeit konzentriert, aber leer, empfangend sein. Die Aufgabe: «Sein Ichbewusstsein bewahrend, die empfangende Aufmerksamkeit des Kindes, die beim Sprechenlernen bis zur Sprechintention oder zum ‹Wort des Herzens› (Th. v. Aquin) reicht, wieder erlangen.»
Beim kleinen Kind ist die Aufmerksamkeit große empfangende Hingabe. Durch Belehrung wird sie intentional. Egoität fesselt die Aufmerksamkeit in die Selbstempfindung. Bewusstseinsschulung bedeutet, sie zu befreien, sodass sie zur Hingabefähigkeit der freien Aufmerksamkeit beitragen kann.
Aus: Georg Kühlewind, Die Schulung der Aufmerksamkeit, in: Freiheit erüben – Meditation in der Erkenntnispraxis der Anthroposophie, Stuttgart 1991
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