Das eine ist die Angst als Lebenstatsache, das andere ist unser Verhältnis zu ihr. Es gibt Niederlagen vielfältiger Art im Leben, es gibt die Angst ‹vor› der Niederlage, mit der wir leben lernen müssen, und es gibt die ‹Niederlage gegen die Angst›.
Das ist vielleicht die ‹Mutter aller Niederlagen›, denn durch sie entsteht die Gefahr, dass das ganze Leben zur Niederlage wird: Die Angst vor der Angst zwingt uns zur Kapitulation. Niederlagen gegen die Angst sind oft verbunden mit einem demonstrativen Hervorkehren der Macht im vertrauten Beziehungsraum. Angst-Angst-Menschen sind unfreiwillige Tyrannen. Ordnungsfanatiker, besessen von der Idee, ihre mitmenschliche Umwelt erziehen, disziplinieren und kontrollierbar halten zu müssen. Deshab wirken diese Menschen manchmal so stark, wenn man sie dort antrifft, wo sie sich auskennen. In Wahrheit sind sie geschwächt und verbittert, fühlen sich als Versager. Ihr Selbstwertgefühl ist erschüttert, nagende Zweifel am Sinn des Lebens rauben den Schlaf. Es stellt sich die paradoxe Erfahrung ein, dass durch das Weglaufen vor der Angst dasjenige sich immer mehr aufbläht, was im Keim erstickt werden soll: die Angst.
Aus: Henning Koehler, ‹Vom Rätsel der Angst›, Kapitel: ‹Vom inneren Gewissen›, Stuttgart 1992.
Grafik: Sofia Lismont