Gewöhnlich geht man von fünf Sinnen aus. In der Anthroposophie wird von zwölf Sinnen gesprochen. Doch was ist eigentlich ein Sinn und wie erlebt man ihn? Es ist Zeit, dass man in diesem Gebiet genauer beobachtet und klare Begriffe erlangt.
Vom phänomenologischen Standpunkt aus liegt es nahe, unter einem Sinn etwas zu verstehen, was den menschlichen Leib so in eine Beziehung zu seiner Umgebung bringt, dass an den daraus sich ergebenden organischen Prozessen elementare Empfindungen bewusst werden. Diese lassen sich nach sogenannten Modalitäten gliedern: Druck-, Wärme-, Farb-, Geräusch-, Geschmacks-, Geruchsempfindungen und so weiter. Die Anzahl der unterscheidbaren elementaren Modalitäten entspräche dann der Anzahl der Sinne. Es entsteht dabei die Frage, wie man erkennt, ob eine Modalität elementar ist. Ist zum Beispiel räumliche Gestalt eine elementare Sinnesempfindung oder setzt sie sich zusammen aus Farb- und Eigenbewegungs-Wahrnehmungen beim Abtasten des Gegenstandes mit den Augen?
Vom physiologischen Standpunkt aus kann man einem Sinn eine Klasse von Rezeptoren zuordnen, das heißt Organe/Zellarten, die physikalische oder chemische Einwirkungen/Reize in neuronale Signale verwandelt, die dann als Grundlage bewusster Empfindungen gedacht werden. Dabei stellt sich die Frage nach der Anzahl der Sinne anders. Man kennt zum Beispiel vier Rezeptorarten, die auf Druck, zwei, die auf Temperaturveränderungen, und zahllose freie Nervenden, die auf jede Art von leichter oder schwerer Verletzung an ihrem Ort reagieren. Sind dies alles Bestandteile eines Sinnes, des Berührungssinns, oder soll man besser von Tast-, Wärme-, und Schmerzsinn reden? Schmerzen wiederum sind von sehr unterschiedlicher Natur. Sind sie elementar? Haben Blendungsschmerz, der Schmerz einer Schnittwunde, der Schmerz bei zu großer Lautstärke, der Schmerz vor einem Herzinfarkt etwas Gemeinsames, das berechtigt, von einem Schmerzsinn zu reden, oder sind das eher Grenzerfahrungen, die durch zu starke Reize des Seh-, des Tast-, des Hör- oder des Muskelsinns auftreten? Darüber hinaus gibt es fünf Arten von Geschmacksrezeptoren und mehrere 1000 von Geruchsrezeptoren. Soll man Geschmacks- und Geruchssinn zusammenfassen, weil beide Rezeptorarten auf chemische Reize reagieren?
Steiner geht bei seinen Darstellungen in seiner ‹Anthroposophie› weder den phänomenologischen noch den physiologischen Weg. Er geht von einer besonderen Art der seelischen Beobachtung aus, durch die es möglich ist, zwölf Weisen zu unterscheiden, wie das Ich sich als geistiges Wesen zur Welt so verhält, dass diese ihr als physische Welt begegnen kann. Dazu wird der Prozess der Sinneswahrnehmung als ein dreigliedriger beschrieben. Danach kann «alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.» (GA 45, Kap. II, Abs.4)
Die Veranlassung ist ein Vorgang, der durch den Kontakt des Leibes mit der Welt angestoßen wird. Anerkennen ist ein seelischer Akt, in dem das Intentionale des Wahrnehmungsprozesses liegt. Der dritte Akt, etwas in die physische Welt zu versetzen, zu dem die beiden anderen berechtigen, ist eine geistige Tätigkeit des Ich in der Welt. In den Vorträgen ‹Anthroposophie› aus dem Jahr 1909 (GA 115) und der Fragment gebliebenen schriftlichen Ausarbeitung, die denselben Titel erhalten sollte, verfolgt Steiner zum ersten Mal den Ansatz, die Sinneswahrnehmungen als die im Bewusstsein erscheinenden Folgen geistiger Beziehungsbildung des Ich zur Welt zu beschreiben. Versteht man den oben zitierten Satz nicht als Definition oder feststehendes Ergebnis abgeschlossener Forschungen, sondern als Fragestellung, dann begründet er einen neuen Forschungsansatz, den es noch viel intensiver auszuarbeiten gilt, als dies bisher bereits geschehen ist.
Bild Robert Katzki