Was in heutigen Händen liegt

Seit 100 Jahren wird dieser Moment der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft und Hochschule ‹Die Weihnachtstagung› genannt. Es war eine Tagung zu Weihnachten, aber nicht nur. Es war auch eine Weihnachtstagung, die einen Anfang bedeutet.


Mit dem Satz, mit dem wir den letzten Tag der Tagung überschrieben haben: «ein Anfang, ein richtiger Lebensanfang», betont Rudolf Steiner diesen Urbeginn, den die Weihnachtstagung einläutet. Und ein immer neuer Anfang geschieht an Weihnachten, jedes Jahr. In diesem Sinne war die Tagung zu Weihnachten ganz sicher eine Weihnachtstagung, und sie kann als Weihnachtstagung weiter bestehen, wenn der Wille dazu da ist. Die damalige Weihnachtstagung hat die Anthroposophische Gesellschaft, hat die beginnende Freie Hochschule für Geisteswissenschaft sehr stark durch das Jahrhundert getragen. Ob sie auch nach 100 Jahren sinnstiftend bleibt, liegt in den heutigen Händen, in der heutigen Verantwortung. Sie kann weiterleben und immer wieder neu eine Weihnachtstagung sein. An Weihnachten, vielleicht in jedem Augenblick des Jahres. Diese Anthroposophische Gesellschaft ist heute eine Weltgesellschaft. Sie lebt in vielen Ländern der Erde. Wir haben hier 40 Länder bei dieser Tagung vertreten. Sie lebt an vielen anderen Orten, und sie lebt in verschiedenen Sprachen. Sie ist hörbar, sie ist verständlich in vielen Sprachen der Welt. Anthroposophie ist schnell übersetzt worden, neu entstanden in den verschiedensten Sprachen. Wenn etwas übersetzt ist, kann es nicht mehr aus der Welt geschafft werden, sagte der Philosoph Franz Rosenzweig. Tatsächlich lebt Anthroposophie in den unterschiedlichsten Kulturen, in den unterschiedlichsten Sprachräumen. Das heißt, sie kann gelesen, gehört und gesprochen werden. Und das ist eine Realität. Die Frage für die Zukunft ist, so glaube ich, nicht, ob Anthroposophie in der Welt lebt – sie lebt. Aber ob die Institutionen, ob die Orte, an denen sie in den verschiedensten Lebensbereichen wirksam wird, ob diese Institutionen fortbestehen können und wie sie fortbestehen können – das ist oft infrage gestellt. Schulen, Bauernhöfe – sie sind bedroht, es ist offen, ob sie weiter bestehen können, ob sie in zehn Jahren, in 20 Jahren da sein werden. Wo gehen die Kinder einer Schule hin, wenn die Schule nicht mehr funktioniert? Wer ist wach für Mitverantwortung, wer hat das Interesse, wer sucht in der Gesellschaft die aktive Zuwendung zu den Institutionen?

Das Goetheanum lebt durch Interesse

Für diese Aufgabe ist heute in der Anthroposophischen Gesellschaft ein wachsendes Interesse und Bewusstsein vorhanden. Und diese Wachheit, diese Teilnahme ist in der kommenden Zukunft gefragt, gefragt als Wahrnehmung einer konkreten Verantwortung dort, wo man lebt und arbeitet. In der anthroposophischen Arbeit gibt es die nationalen Gesellschaften, es gibt die Gruppen in den Ländern, und nur vor Ort kann man wissen, was für eine Waldorfschule, für einen Demeterhof das Richtige ist. Man kann nicht aus der Ferne sagen, was das Gute ist. Es ist nicht Aufgabe der Freien Hochschule, irgendwo in eine Institution einzugreifen. Die Gesellschaft kann es sich zur Aufgabe machen, dort zu unterstützen, wo die Institutionen sind. Und die Gesellschaft als kosmopolitische Weltgesellschaft hat die Aufgabe, eine Institution, einen sichtbar gewordenen Ort der Anthroposophie zu verantworten: Das ist das Goetheanum als gemeinsamer Ort der Gesellschaft. Das Goetheanum braucht Interesse, braucht Zuwendung. Dieses Gebäude und all die Menschen, die hier arbeiten, die 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dazu beigetragen haben, dass auch diese Tagung stattfinden konnte. Die Existenz dieses Ortes in seiner Arbeit ist nicht von selbst gesichert. Während der Corona-Zeit musste das Goetheanum zeitweise geschlossen werden. Wie lebt ein öffentlicher Ort, den niemand mehr besuchen kann? Oder wenn sich die Frage stellt, wie er weiterarbeiten kann? Wie trägt man diesen Ort? Es gibt eine weltweite Mitverantwortung der Gesellschaft für dieses Goetheanum. Das braucht es auch in den kommenden Jahren. Das kann nicht für die nächsten 100 Jahre behauptet oder gar versichert werden, aber es kann für die nächsten fünf Jahre, für die nächsten 20 Jahre eine Verbundenheit mit dieser Aufgabe angestrebt werden. Das aktive Interesse an dem, was Anthroposophie unmittelbar in die Öffentlichkeit bringt, wo sie wirksam wird. Dafür kann man sich wünschen, dass es im weihnachtlichen Sinne immer wieder neu gut werde.


Titelbild Constanza Kaliks (Mitte) mit Marion Debus (links) und Justus Wittich (rechts), Foto: Ariel Turner

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