Das Gefühl ist ein gemischter König: Es schafft die Brücke zur Welt und ist zugleich der Ort von Selbstbezug und Eitelkeit. Das Gefühl zu kultivieren, die Affekte zu kontrollieren, lässt nicht nur die Persönlichkeit reifen, sondern legt den Keim zur Brücke zum Geist.
Zum Geist-Besinnen, zu dem der Grundsteinspruch aufruft, dienen die sechs Nebenübungen, die Rudolf Steiner als Unterstützung des geistigen Schulungswegs angab. Dazu gehört zum Ersten die Kontrolle der Gedanken. Sie ist üblicherweise die erste Übung der sechs, welche manchmal allerdings auch in anderer Reihenfolge gegeben werden. (1) In ‹Die Schwelle der geistigen Welt› (GA 17) hat das erste Kapitel den Titel ‹Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann, und von dem Wesen der denkenden Seele. Vom Meditieren›. Die Seele habe ein natürliches Vertrauen im Denken, heißt es dort. Dieses Vertrauen, wenn man es in sich entwickelt oder verstärkt, wird eine Kraft der Seele, durch die sie von sich loskommen und die Welt in sich aufnehmen kann. In der ersten Nebenübung fließt aus der Meditation über das Denken so die Kraft zur Meditation selbst. So ergreift das Ich den Astralleib. Es bringt – wie es im Grundsteinspruch heißt – ‹Gedankenruhe›. Der Meditationsspruch dazu kann sein:
Im reinen Denken findest Du
Das Selbst, das sich halten kann. (2)
Polar ist das In-sich-selbst-Sein im Fühlen und Wollen. Dem Leben in reinen Gedanken steht das Erleben der Bilder gegenüber. In der Meditation steigen Bilder aus dem Innern herauf, tangiert von der Wirklichkeit wie Erinnerungsbilder. Das Erkennen der elementarischen Welt in der Imagination beruht darauf, dass man sich hingibt und verwandelt und dass zusätzlich dieses Verwandeln bewusst wird. Die Fähigkeit, objektiv zu fühlen, mit dem Fühlen wahrzunehmen, wird da angesprochen: «Abstufungen von Seelenerlebnissen treten auf, die man – besonders für die elementarische Welt – als Sympathien und Antipathien bezeichnen muss.» Die Konfiguration von Sympathie- und Antipathiekräften ist ähnlich wie das Farbenbild eines Sinnesdinges in der physischen Erscheinungswelt, wie eine Rose. Hier wird der Ätherleib als Erkenntnisinstrument vom Ich ergriffen. Und die Stufen dazu sind in einem Spruch:
Wandelst zum Bilde Du den Gedanken
Erlebst Du die schaffende Weisheit
und
Verdichtest Du das Gefühl zum Licht,
Offenbarst Du die formende Kraft.
Aus Fühlen wird geistiges Sehen
Die dritte Nebenübung bezieht sich darauf, Herr über die Gefühle zu werden, in dem Sinne, dass die Seele nicht zwischen den Polen von ‹himmelhoch jauchzend› und ‹zu Tode betrübt› wankt, sondern zu Gelassenheit oder – wie es in Rudolf Steiners Grundsteinspruch heißt – zu ‹Lebensgleichgewicht› oder ‹Seelengleichgewicht› kommt. So wird das Ich zum Meister des Astralleibs, statt von diesem beherrscht zu werden. Es steckt jedoch noch ein einfaches, aber tiefes Prinzip dahinter. Solange es die Begierden sind, die die Gefühle aus dem Leibe heraus führen, lebt man in sich als alltägliches Selbst. Schweigen im Fühlen die Begierden, so wird das Gefühl zur Brücke, sich mit der Geisteswelt zu verbinden. Die Seele erweitert sich in die elementarische Welt oder Astralwelt hinein – oder anders: Diese Astralwelt kommt an die Seele heran und spricht sich aus.
Auf diese erste Besinnung auf das Fühlen folgt die Übung, das Gefühl zu einem Geistorgan zu entwickeln. In ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› beschreibt Rudolf Steiner, wie Gedanken sich in Gefühlen verdichten und zu den Kräften werden, die an den Hellseherorganen bauen. Sich dem Wachsen und dem Sterben in der Natur auszusetzen und zu lauschen, wie diese Phänomene in der Seele nachklingen, wie ein Sonnen- oder Mondaufgang, ist solch eine Übung.
Wir üben weiter mit der Samenkorn-Meditation und der entwickelten Pflanze und lernen, intensiv zu fühlen, während man daran denkt, wie im Samenkorn die ganze Pflanze schlummert oder in der entfalteten Pflanze die konzentrierte Kraft der Samenbildung. Vom Erleben des Wachsens und Sterbens der Gestalt gehen wir über zum Erleben der Kraft des zukünftigen Wachsens der Keime oder der zusammenziehenden Schöpferkraft im Samenbilden. Die Gefühle verdichten sich zum imaginativen geistigen Farbenbild, das heißt, man sieht vor dem inneren Auge Rot oder Gelb. Dann lernen wir, den Ton in der Seele des anderen Wesens zu hören und dabei mit dem Wesen vollständig zu verschmelzen, in dasselbe aufzugehen und später mit der größten innerlichen Ruhe der eigenen Seele die Gefühle eines anderen Menschen (dessen Begierde und Befriedigung) zu erleben und zur geistigen Anschauung werden zu lassen. Auf diese Weise fallen nach und nach in der ‹Feuerprobe› die Schleier des Sinnlichen für den geistigen Blick. In der Imagination erhellt sich die vorher dunkle geistige Seite der Welt zur Lichtgestalt. Wir verdanken dies, indem wir zum Meister über das Gefühl geworden sind.
Vorstufen der Imagination
Wie bei der einfachen Denkübung gewissermaßen Hegels ganze ‹Wissenschaft der Logik› in einer Übung zusammengezogen und hilfreich werden kann, so findet sich philosophisches Vorstellen als imaginative Übung des Fühlens bei Hegels ehemaligem Freund Friedrich Schelling (1775–1854). Schelling ist bekannt für seine ‹Identitätsphilosophie›, eine Art Synthese des Gegensatzes von Fichte (‹Ich›) und Spinoza (‹Substanz›). Was sich in manchmal verwickelter Spekulation als eine solche Identitätsphilosophie ergibt, hat auch Schelling erlebt. Man kann nachempfinden, wie er in die imaginative Welt eindringen wollte, in Sätzen wie:
«Alle wahre Betrachtung, auch des Einzelnen, ist Intuition aktueller Unendlichkeit […]. Diese Unendlichkeit kann man nur intellektuell anschauen und betrachten, aber nicht durch Denken erreichen oder entwickeln.» (3)
Schelling war ein mutiger und «erfinderischer Kopf ohnegleichen», so huldigt ihm Rudolf Steiner in ‹Die Rätsel der Philosophie›. (4) Und mehr noch war er vielleicht ein Genie des fühlenden Denkens: «Bei ihm streben alle Geisteskräfte nach der Fantasie hin.» (5) Diese in den platonischen Mysterienwesen untergetauchte Seele konnte mit größerer Affinität mit Goethe nach Kant wieder eine Naturphilosophie hervorbringen, ihr eine ebenbürtige Philosophie der Kunst zur Seite stellen. Schelling konnte sowohl Giordano Brunos heroische ‹Furori› wie auch die mystischen Schriften Jakob Böhmes innerlich verstehen und ihnen jeweils begeistert ein Werk widmen (‹Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch›, 1802, bzw. ‹Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit›, 1809. Rudolf Steiner darüber: «Schöneres gibt es nicht.»). Die vielen Freund- bis Feindschaften in Schellings Leben sind ebenso charakteristisch. Er blieb für viele der ‹Proteus der Philosophie›, der «seine Entwicklung für das Publikum durchgemacht habe». Wir können in diesen Zügen besser sehen, wie Schelling ganz dem Geiste ergeben war mit einem wandelnden, sich immer stärker vertiefenden Gemüt. Er wollte in philosophischen Anschauungen leben, nicht nur in abstrakten Begriffen.
Schelling taucht in seiner Naturphilosophie mit dem ‹Gesetz der Polarität› in den Erscheinungen unter. Man kann es bei ihm als Prinzip des astralischen Grunderlebens deuten, das vermittelnde Weben in Sympathie und Antipathie, Ausfließen und Zusammennehmen, im Seelenglied zwischen Geist und Materie. Schelling wendet es auswärts und fängt mit einer Betrachtung der realen Masse und Schwere der Materie an und spürt weiter der massenlosen Raumerfüllung des Lichtes nach. Er empfindet es als die rein ideale Bewegung, den Raum zu ‹beschreiben›. Das führt zu dem Grundgegensatz in der Natur von dunkler Materie und lichthellem Raum. Schelling kann so ähnlich wie Goethe die Farbe als Ineinanderwirken von Licht und Nichtlicht (Finsternis der Masse) erleben. Er beobachtet weiter den polaren Gegensatz von Kontraktion und Expansion, Ausdehnen und Zusammenziehen, als in der Natur wirkend und dann, wieder mit Goethe, als bewirkend in der Metamorphose der Pflanze zwischen Erde und Sonne. Er entwirft ferner eine Dreigliederung des Organismus, die sich in eine Sinneslehre steigert, die Rudolf Steiners Entwurf im ‹Fragment› von 1910 (GA 45) sehr verwandt ist. Er kommt zur realen Imagination: Die Pflanze ist Organ der Erde, wodurch sie zur Sonne spricht. Das Tier ist Organ der Sonne, wodurch diese zur Erde spricht. Der Mensch ist losgerissen von der Erde wie das Tier, aufgerichtet wie die Pflanze, und so Organ der Erde und der Sonne, das, die ganze himmlische Umwölbung fassend, die Erde erkennt und umwandelt. (6) Hier sehnt sich Schelling nach einer neuen Wissenschaft des Menschen, die es damals noch nicht gab, etwas anderes als das, was man ‹Anthropologie› nannte und ‹Anthroposophie› heißen sollte! (7)
Grundverhältnisse der Seele und der Natur
Die Imagination fordert, dass man sich ins geistig Wesenhafte verwandeln lernt. Schelling stellt demgemäß als ersten Grundsatz seiner weiteren Philosophie auf: «Die erste Voraussetzung allen Wissens ist, dass es ein und dasselbe ist, das weiß und das gewusst wird.» Die Seele ist eins mit der Welt und sollte sich im Erkennen dessen nur bewusst werden. Schelling – ebenso wie Hegel im reinen Denken – lässt die Seele im (imaginativen) Naturerkennen einen Kreis von zwölf Stationen durchschreiten, die uns noch immer orientieren können. (8)
Zuerst treten wir selbst trennend dadurch auf, dass wir aus dem Geiste heraus, die Identität aufhebend, uns die Welt gegenüberstellen, obwohl wir das Gefühl behalten, ihr zuzugehören (vgl. Rudolf Steiners ‹Die Philosophie der Freiheit›, II. Kap.). Schelling:
• Die Natur ist an sich betrachtet die ewige Substanz, in Bezug auf unser Wissen jedoch geteilt in Reales und Ideales, in Subjekt und Objekt, in Seele und Welt.
• In der bloßen Anschauung erscheint die Natur in jedem Ding als bewusstlos schaffend, mehr als Organ oder Gegenbild der Idee selbst.
• Wir müssen dafür das Verhältnis von den Dingen der Natur zur Natur überhaupt wie zwischen absoluter Identität und endlichen Dingen betrachten, wenn es gilt zu ‹verstehen› (vgl. ‹Die Philosophie der Freiheit›, V. Kap.: Das Erkennen ist das Überwinden des Sonderseins der Dinge)
• So ist in jedem Ding a) das Wesen als die Unendlichkeit und b) die Form oder seine Endlichkeit, wodurch es in Differenz von a) erscheint.
Schelling schreitet hier die ersten vier Stufen des Tierkreises ab, so wie Rudolf Steiner sie als einen Weltanschauungskreis in GA 151 schildert: Der Impuls der Begriffsform im Idealismus (Widder), dann ersteht das Objekt, insoweit es dem Begriff zugänglich gesetzt wird im Rationalismus (Stier), weiter das geometrische und zahlenmäßige Doppelverhältnis von Endlichem und Unendlichem (Punkt und Peripherie, Eins und dessen Wiederholung in der Zahl) im Mathematismus (Zwillinge), und zuletzt wirkt, die feste Form der Dinge suchend, der Materialismus (Krebs). Vom 5. bis zum 8. Axiom entfaltet sich nun das erkennende Verhältnis von Mensch und Welt.
• Der ‹Erscheinungsexponent› der Dinge ist, dass sie in der ‹Gegenbildlichkeit› versunken sind. Nochmals betont Schelling, wie im 2. Axiom, dass uns die Dinge als ein Gegenbild erscheinen, nur hier mit dem Akzent, dass sie in dieser Gestalt als Sinnesbild ‹versunken› sind.
• Insofern die Dinge die absolute Identität, die Substanz, nicht aufnehmen, erscheint auch dieses an ihnen, diesmal als ‹ihre Notwendigkeit oder das Fatum, dem sie unterworfen sind›. Nicht nur die Dinge selbst, sondern auch ihre Abgesondertheit erscheint in ihrem Leiden und Untergehen.
• Ihr Wirken aufeinander ist dabei aber auch nur Schein, denn «kein Ding in der Natur wirkt der Substanz nach auf das andere oder erfährt eine Wirkung, sondern jedes, als eine Welt im Kleinen, stimmt mit jedem andern durch absolute Identität zusammen», ist von innen her mit den andern koordiniert.
• Denn die Dinge sind ‹innerlich verknüpft›. So zeigen uns, laut Schelling, sowohl ‹die Schwere› (die Gravitation oder das Streben nach ihrer Einheit im Mittelpunkt) wie eine Menge von chemischen, elektrischen und magnetischen Erscheinungen. Die unorganische Materie soll Leibniz daher mit Recht als den Schlafzustand der Materie bezeichnet haben. In uns erwacht die Natur, da der Mensch, «der ganz im Zentrum steht, die vollkommenste, innerste Einheit mit allen Dingen hat», denn er erkennt sie.
Das sinnliche Erkennen trifft zunächst den Schein, den Standpunkt des Sensualismus (Löwe). Im Er-Scheinen und Verschwinden, also zwischen den Dingen, erscheint ihr ephemeres Sein im Phänomenalismus (Jungfrau). Drittens werden wir uns bewusst, dass ein verbindendes Ideelles im äußeren Schein wirken muss, wenn wir nicht grob materialistisch Druck und Stoß als verantwortlich für alle Dynamik der Dinge untereinander ansehen. Wesen reihen sich selbst an Wesen im Realismus (Waage). Zuletzt wird das Erkennen für Schelling aus der Welt selbst geboren. Was als Kraftwirken das ‹okkulte› Dynamische erfasst im Dynamismus (Skorpion), sich kundtut im Anorganischen, enthüllt sich im Menschen als Wissen und Erkennen. Sehr bedeutend ist, wie Schelling dieses 8. Axiom selbst erläutert und dadurch das imaginative Erkennen jenseits des sinnlichen Scheins kennzeichnet: «Für diese innerliche Verknüpfung der Dinge haben wir keine andere Bezeichnung als entweder die der Sympathie und Antipathie, der Liebe und des Hasses, wie bei den Alten, oder allgemeiner und deutlicher die der Perzeption.» Das Gefühl, die verborgene Kraft, verdichtet zum Lichte! Schelling wendet uns zurück zum Ganzen und umfasst die himmlische ‹Umwölbung› des Unendlichen:
• Die Natur als Ganzes hat nichts außer sich und besteht daher in einem steten und gleichen Verhältnis des Positiven und Negativen, der Bewegung und Ruhe, weil es von außen her nicht verändert werden kann.
• Also bleibt sich im Wechsel des Einzelnen das Ganze gleich, oder anders gesagt, das Verhältnis von Positivem und Negativem, Bewegung und Ruhe usw. wechselt nur in den Einzeldingen.
• Wenn nun der Teil dem Ganzen gleich ist, sind diese nicht nur wesentlich der Substanz gleich, auch in ihren Wechseln, in den Modifikationen (nach einem Ausdruck Spinozas), sind die Teile durch das Ganze, d. h. durch alle anderen Teile, bestimmt. Alles ist daher in unendlicher Variation, zugleich aber auch holistischer Ausdruck des Ganzen.
• Alles gehört als solches zum Sein und zur Idee der unendlichen Substanz. Nichts hat ja Sein aus sich, außerhalb der Substanz oder Gottes. Alles hat Sein aus ihm und ist daher auch in dessen Sein.
Schelling skizziert hier in allgemeinen Begriffen, die in Rudolf Steiners Anthroposophie noch konkret-menschlich werden, dennoch folgerichtig die weiteren Stufen. Die Natur ist für Schelling als Ganzes die ‹Monas›, das wahrhaft Einzelne, das nichts außer sich hat, wie im Monadismus (Schütze) bei Leibniz der Urmonade sich in der Welt von Monaden spiegelt. Die Einzeldinge haben ihren Wechsel, entstehen und vergehen, ohne dass das Ganze wechselt. Es bleibt sich in der Dauer gleich und besteht als ewiges Gott-Geist-Wesen im Blick des Spiritualismus (Steinbock). Ein einziger Atem (griech. = pneuma) durchzieht alle Einzeldinge, wodurch alle Teile dieses Ganze spiegeln (wie die Monaden die Welt spiegeln oder wie im Kleinen, im Pflanzenorganismus ‹alles nur Blatt› ist, modifiziert vom Ganzen). Es ist dies der Standpunkt des Pneumatismus (Wassermann), wo die Natur in ihrer Äthergestalt erkannt wird. Die Dinge sind zuletzt nicht nur Bild oder Ausdruck des Ganzen, sondern haben ihr innerlichstes Bestehen im Gottesgrund, die Seele ihrer Seelen wurzelt in Gott, wie wir es bei dem sich steigernden Psychismus eines Fichte finden (Fische).
Vom ‹Geist-Besinnen› zum ‹Welt-Ich-Vereinen›
Es mag abstrakt anmuten, Schelling trifft aber mit seiner Identitätsphilosophie sicherlich den Punkt, wo die Voraussetzung des erkennenden Fühlens erfasst wird: Im Fühlen erleben wir das Leben der Natur und der fremden Seele mit, sind wir zugleich inner- und außerhalb unseres Selbst. Im Reinigen der Gefühle in der freien Seele, sich übend in der Selbstbetrachtung des menschlichen Geistes, im Geist-Besinnen, bereitet das Ich sich nun vor, die Welt fühlend durchdringen zu können, ihr ‹Hemmen und Streben› nachzuempfinden. Wir haben da – sei es nun vorerst wie bei Schelling in der Form von zwölf Axiomen – unser Selbst in seiner Perspektive auf die Natur im Bilde zu erfassen. Zuerst hat man nämlich auf dem Schulungsweg sich selbst in zwölf Imaginationen (als Sonne durch den Tierkreis) zu erleben, ehe man durch die vom Wahrheitsgefühl geleitete Imagination hindurch zum objektiv geistigen Erkennen durchdringen kann. (9) Anders gesagt: ehe man sich als Ich dem Welten-Ich vereinen kann.
Zuerst reinigt man das Fühlen von Begierden, dann von der Trägheit des persönlichen Standpunktes, den es auch noch im Durchgang der Zwölfheit zu überwinden gilt, will man objektiv fühlen lernen. Deswegen ist die dritte Übung der Kontrolle des Fühlens aber moralisch nicht allzu eng zu nehmen, sondern es geht darum, in ihr allmählich zu verstehen, wie die Seele sich vollständig zum Erkenntnisorgan umwandeln kann. (10)
(1) Vergleiche die Auswahl von Ateş Baydur, Die sechs Nebenübungen. Futurum 2012.
(2) Für die Sprüche siehe z. B. GA 266/I, S. 265–271.
(3) Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie. 1806, Nr. 81 und 84.
(4) GA 18, S. 212 und auch S. 228–229.
(5) GA 18, S. 212.
(6) System der gesamten Philosophie und die Naturphilosophie insbesondere. Sämtliche Werke. Hrsg. K. F. A. Schelling, 1856–1861 I/6, S. 488–489.
(7) Ebenda, S. 488.
(8) Ebenda, S. 278–282.
(9) Vgl. Makrokosmos und Mikrokosmos. GA 119, Vortrag Wien, 29.3.1910.
(10) Es ist erfreulich, dass man sich inzwischen auf akademischem Feld wieder für Schelling begeistert. Man vergleiche z. B. Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewusstseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2006.
Titelbild: Hilma af Klint, Baum der Erkenntnis 2, Albert-Steffen-Stiftung