So titeln Michaela Glöckler und Andreas Neider ihr viertes Buch zur Pandemie und haben darin Artikel von sieben Autorinnen und Autoren zu den Perspektiven in und aus der Corona-Krise gesammelt. Es gehe jetzt darum, die Stimmen der Impfbefürworter und der Skeptiker wie zwei Stimmen einer Melodie zusammenzuführen. Die sieben Schreibenden bleiben ihrer kritischen Haltung treu und schaffen es doch, mit dem an Bezügen und Gedanken so reichen Buch zu diesem zweistimmigen Gesang zu befähigen.
Michaela Glöcklers Beitrag beschreibt, wie unter dem Druck der Ereignisse sich Überwachung und Digitalisierung so schnell vollziehen, dass sie sich demokratischer Kontrolle entziehen und wenigen Fachleuten und Verantwortungsträgern die Entscheidung überlassen wird. Sie lenkt den Blick darauf, dass 200 Staaten sich so schnell in einer auf das Impfen sich stützenden Strategie gefunden haben, während bei der Klima- oder Hungerfrage die Meinungen und Handlungen weit auseinandergehen. Eine solche Strategie könne begeistern, so Glöckler, wenn man ein Menschenbild hat, in dem der menschliche Organismus in Gesundheit und Krankheit ein steuerbares Objekt in einer zu steuernden Gesellschaft darstellt. Die Schäden für Kinder und Jugendliche finden wenig Beachtung, autokratische Strukturen in der Staatsführung werden plötzlich denkbar. Hier zeigt sie auf, dass die Gesundheitsfürsorge nicht den ökonomischen Regeln und Zwängen überlassen werden darf. Die technokratische Weltsicht und die spirituelle Weltsicht der Anthroposophie scheinen sich in ihrer visionären Kraft verwandt, sind aber hinsichtlich Autonomie und Abhängigkeit gegensätzlich. «Unsere Zukunft in globaler Perspektive wird von der Art und Weise abhängen, welche Antwort wir Menschen auf die Frage geben, «was Ziel und Zweck eines menschlichen Lebens auf der Erde ist», lautet hier ihr Fazit. Michaela Glöckler führt den Virologen Drosten an, der nun auch betont, dass an einer Immunisierung kein Weg vorbeiführe, und damit das gängige Primat der Impfung infrage stellt. Sie fragt, warum so viele Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte und soziales Elend in Kauf genommen werden, nur weil der politisch-ökonomische Wille fehlt, die pflegerische und stationäre Versorgungslage der Krankenhäuser zu verbessern und den Schutz der vulnerablen Gruppen zu optimieren, und fordert einen «angstfreien Debattenraum». Bezüglich der persönlichen Ebene fragt sie weiter, warum eine seltene, aber mögliche schwere Covid-19-Erkrankung nicht zu den Lebensrisiken gehören darf und warum hier nicht an die Eigenverantwortung und den Selbstschutz appelliert wird wie bei Zivilisationskrankeiten. Michaela Glöckler mündet mit praktischen Beispielen in die Feststellung, dass Spiritualität heute keine Privat- oder Glaubenssache mehr sei, sondern nötig, um die Schäden auszugleichen, die der technokratische Kulturfortschritt mit sich bringe.
Göttliche Gnade und eigener Wille
Andreas Neider geht 1600 Jahre zurück, um an dem theologischen Streit von Pelagius das Problem des Streits um Impfskepsis und Impfpflicht zu zeigen. Damals ging es um die Frage, ob wir Menschen dank göttlicher Gnade aus Sündhaftigkeit befreit werden (Augustinus) oder ob wir uns aus eigener Kraft und freiem Willen, die uns dank göttlicher Gnade zuteilgeworden sind, befreien können. Dieser Streit von der guten oder der problematischen Natur des Menschen spiegle sich, so Neider, in der Impffrage. Für die Impfbefürworter trete die Impfung an die Stelle der göttlichen Gnade, während die Skeptiker in der gesunden Lebensweise den Weg sehen. Hier zeigt sich das musikalische Eingangsmotiv, das erst die Zweistimmigkeit ‹stimmig› werden lässt. Interessant ist anschließend Neiders Blick, der in Anlehnung an Peter Sloterdijk auf die drei Schichten des Immunsystems – eines biologischen, eines soziologisch-juristischen und eines psychologischen – verweist und aufzeigt, auf welche Schlüsselbegriffe die Corona-Krise die Aufmerksamkeit lenkt.
Die zweite Dynamik kritischer Verläufe beruht auf einem überschießenden entzündlichen Gegenprozess des Stoffwechselsystems. Diese überschießende Gegenreaktion, bei der ein eigentlich als Heilprozess berechtigtes ‹Zurückschlagen› des Stoffwechselsystems über sein Ziel hinausschießt, bewirkt einen ‹Zytokinsturm›, der zu einem entfesselten und vom Organismus nicht mehr kontrollierbaren Entzündungsgeschehen mit ebenfalls erhöhtem Komplikationsrisiko führen kann.
Die Kraft des Muts
Christoph Bernhardt erläutert, was menschenkundlich bei einer Corona-Erkrankung geschieht. Mit Covid-19 mache sich das Nerven–Sinnes-System mit verhärtender Tendenz in der Mitte des Organismus geltend. Darauf antworte der Stoffwechsel mit einer lösenden Fieberreaktion. Im Gleichgewicht beider Kräfte werde man gesund, überwiegt die Verhärtung, kann es beispielsweise zu Blutgerinnseln kommen, im entgegengesetzten Fall folgen entzündliche Prozesse im Stoffwechsel. Covid-19 zeige deshalb das Bild eines Kampfes um die Mitte. Bernhard betont: «Eine ganzheitliche, salutogenetisch orientierte Sichtweise muss diesen Kräften der Angst, der Dunkelheit und der Kälte die Kräfte des Mutes, des inneren Lichtes und der inneren Wärme entgegensetzen.»
Seit 20 Jahren beginnen wir, so der Virologe Thomas Hardtmuth, zu verstehen, dass ein unvorstellbares Ausmaß von Viren und Bakterien uns Menschen besiedelt, weshalb das Feindbild ‹Krankheitserreger› zu kurz greife und eine erweiterte Perspektive gerade im Umgang mit der Corona-Krise nötig sei. Die tradierten Vorstellungen vom schädlichen Erreger spiegeln sich im Pandemie-Management, das deshalb medizinisch wenig erfolgreich ist.
Gedächtniszellen erinnern den Virus
Christoph Hueck betont, dass mit der Ausbreitung der Omikron-Variante sich zeige, dass eine schützende Herdenimmunität auch durch eine noch so vollständige Impfquote nicht erreicht werden kann. Auch deshalb müsse die Impfung eine freie, individuelle Entscheidung bleiben! Dabei gelte, dass nach einer natürlichen Infektion ein deutlich höherer und länger anhaltender Schutz vor Reinfektion bestehe als nach einer Impfung. Die Menge der Antikörper lässt zwar mit der Zeit nach, aber das Vorhandensein von Gedächtniszellen des Immunsystems zeigt die Grundlage für einen möglicherweise jahrelang bestehenden Schutz. Zur freien Entscheidungsfähigkeit gehören das angstfreie Gespräch, die vorurteilsfreie Information. Thomas Hardtmuth zeigt, wie die Kriegsrhetorik in der Corona-Zeit diesen offenen Diskurs erschwert.
Der Pädagoge Bernd Ruf skizziert die traumatische Wirkung der Corona-Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche. Lichtblick: Aus jedem Trauma kann ein ‹posttraumatisches› Wachstum hervorgehen, das die Persönlichkeit reifen lasse. Das lenkt den Blick auf die Bildung in den nächsten Jahren. Das reiche Buch endet mit dem Blick von Hartmut Ramm in die Sterne, dem österlichen Tanz von Venus und Mars am gleichen Ort, wo zwei Jahre zuvor Jupiter und Saturn ihre Konjunktion feierten. Ramm erinnert an die herausragenden Konstellationen um das Jahr 0. Damals sei es eine Zeitenwende gewesen. Gelingt heute eine Wende der Werte?
Buch Corona – Was uns die Pandemie lehren kann, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen Bd.5, 2022.
Bild Rafael Garcin
Peinlich, wie sich Das Goetheanum in Person seines Chefredaktors W. Held hier an die Akanthos-Akademie heranwanzt. An eine Michaela Glöckler also, die Dysfunktionalität für ein Erkennungsmerkmal gesunder Demokratie und guter Regierungsführung zu halten scheint – als wäre gerade das Nicht-Funktionieren angesichts einer Krise der Beweis für die strukturelle Gesundheit und Funktionsfähigkeit der Weltgemeinschaft. An einen Andreas Neider, der Impfungen mit der von absolut Außen hereinströmenden Göttlichen Gnade im Sinne des Augustinus vergleicht und dabei vollkommen zu übersehen scheint, dass die Entwicklung der Impfstoffe und deren Herstellung und Verteilung gerade eine überraschende menschliche Leistung sind und mit viel größerem Recht als „Selbsterlösung“ der Menschheit bezeichnet werden können als das bißchen „gesunde Lebensführung“, das, wie wir inzwischen wissen können, hinsichtlich der Disposition für schwere Covid-19-Verläufe vom individuellen genetischen Erbe bei Weitem übersteuert wird. An einen Hartmut Ramm, der – wie auch W. Held selbst, wenn ich mich recht erinnere – von einem baldigen Ende der Pandemie aufgrund von Sternenkonstellationen ausgeht. Nun, will man als Prophet anerkannt bleiben, sollte man nie kurzfristig falsifzierbare Voraussagen machen, oder? Kurz, für mein Empfinden haben Das Goetheanum, die Akanthos Akademie und weite Teile der anthroposophischen Bewegung sich in der Pandemie so derart grundlegend diskreditiert, dass ich an die Möglichkeit eines gemeinsamen „Gesanges“ mit ihnen leider nicht mehr glauben kann.