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Warum ist Syrien im Krieg?

Der Krieg in Syrien tobt nun seit sieben Jahren und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Historiker Günter Boss zieht eine Parallele zum Dreißigjährigen Krieg, denn wie dieser begann es in Syrien als Konflikt der muslimischen Konfessionen und ist zu einem Krieg der Staaten und Mächte angewachsen. Wolfgang Held im Gespräch mit Günter Boss.


Der Krieg in Syrien findet im Herzen der islamischen Welt statt und zugleich sind mit Russland und den USA die großen Mächte beteiligt. Wie kann man das verstehen?

Günter Boss Der Westen unterscheidet sich von der islamischen Welt dadurch, dass er drei Schritte vollzogen hat, die im islamischen Kulturkreis so nicht geschehen sind. Der erste ist die Trennung von Staat und Kirche, die mit dem Investiturstreit ihren Anfang genommen hat. Karl der Große hatte sich als Schutzmacht über die Kirche gestellt und so herrschten auch seine Nachfolger über die kirchlichen Güter und Ämter. Mit dem Wormser Konkordat von 1122 verloren die Kaiser diesen Zugriff auf die Kirche. Staat und Kirche wurden eigenständig voneinander. Zum Zweiten hat es, vor allem durch die Reformation, eine Verweltlichung der Religion gegeben. Martin Luther machte die Religion zur Schriftsache, zur Philologie. Sie ist nicht mehr Bild, nicht mehr Offenbarung und Vision, sondern der Bezugspunkt der Religion ist die Schrift und deren Auslegung. Den dritten Schritt brachte schließlich die Aufklärung. Religion wurde zu einer säkularen Ratio. Die gesamten Ideale des Christentums wandelten sich in eine verstandesmäßige Form als Menschenrechte und Menschenwürde.

Diese drei Wandlungen hat der Islam nicht vollzogen?

Wenn man den islamischen Kulturkreis anschaut, dann war er im Mittelalter der europäischen Kultur hoch überlegen. Das gilt für die Wissenschaft, die Bildung, überhaupt das gesellschaftliche Leben. Zugleich war diese kulturelle Entfaltung eng verbunden, ja abhängig vom islamischen Glauben. Die Säkularisierung, dass sich Gesellschaft und Religion voneinander lösen, dass sich die Fragen der Lebensführung in den Bereich der persönlichen Vernunft verlagern, das entwickelte sich in der islamischen Welt kaum. Die Kalifen sind die obersten Priester, der Imam ist der höchste Priester. Weltliches und Geistliches sind in enger Abhängigkeit voneinander.


Foto: Samer Daboul

Foto: Samer Daboul

Man kann mit Gerhard Schweizer (‹Islam verstehen›) schon sagen, dass es im islamischen Kulturkreis eine partielle Aufklärung im Mittelalter gegeben hat. Nur hat sie sich nicht durchgesetzt, wurde rückgängig gemacht und betraf auch nie eine Trennung von Staat und Religion, worauf es mir ankommt. Dabei ist an Denker und Mystiker wie Ibn al-Arabi, den Derwisch Dschelaleddin Rumi, den Arzt Ibn-Sina (Avicennna), Averroes oder Omar Chaijam gedacht. Es werden rationale Gedanken zur äußeren, materiellen Welt entwickelt und Toleranz spielt eine große Rolle wie erst wieder in der europäischen Aufklärung. Nicht umsonst hat Lessing dem Sultan Saladin aus dem 12. Jahrhundert und Nathan mit seiner ‹Ringparabel› ein Denkmal gesetzt. Omar Chaijam zum Beispiel schreibt in einem Gedicht, wie er als Falke den Himmel durchflogen habe, keinen Gott fand, aber in sich selber fand er Himmel und Hölle. Auch mathematisch und in der Form der Erörterung waren die aristotelisch geprägten arabischen Gelehrten dem Westen weit voraus und rationaler. Das gilt auch für die Zivilisation, was unschwer ein Vergleich der Stadt Aachen von Karl dem Großen und von Harun al Raschids Bagdad mit seiner öffentlichen medizinischen Versorgung verrät. Aber die islamische Orthodoxie begegnete diesen Denkern eher abwertend, indem sie ihnen vorwarf, nicht rechtgläubig zu sein. Später wurden sie gar verketzert. Hinzu kommt, dass die Orthodoxie die politische Führung behielt und der ‹Mongolensturm› diese partielle aufgeklärte Kultur vernichtet hat. So bleibt bestehen, dass im islamischen Kulturkreis eben die entscheidende Trennung von weltlichem und geistlichem Bereich, mit all seiner Freiheitsmöglichkeit nicht gelungen, noch nicht gelungen ist. Während im Westen die Aufklärung am Ende das europäische Mittelalter überwand, wurden die Ansätze einer solchen Weltanschauung von vielen Korangelehrten im Orient ausgelöscht oder ins Abseits geschoben.

Das Christentum ist in den Katakomben ‹unter› dem Staat, parallel zum Staat entstanden. Der muslimische Glaube beginnt mit der Vereinigung der Wüstenstämme, er ist von Beginn an politisch – oder?

Tatsächlich gehört zum Islam eng die politische Dimension, während sich das Christentum subversiv entfaltet und das heutige Christentum ohne die Aufklärung nicht denkbar ist. Wie kam es denn zur Aufklärung? Da spielt der Dreißigjährige Krieg eine große Rolle. Es begann mit einem Konfessionskrieg, Katholiken, katholische Liga auf der einen Seite, Protestanten bzw. protestantische Union auf der anderen. Wer da marschierte, der dachte aber an das Habsburger Reich, Schweden, Spanien, Frankreich oder Bayern, der dachte an zu gründende Imperien. Es wird zu einem Krieg der Nationen, der kein Ende findet und die Aufklärungsphilosophie auftreten lässt. Es erscheint Thomas Hobbes (1588–1679) in England, der in seinem Hauptwerk ‹Leviathan› die Idee eines Staates als souveräne Gewalt entwirft, der die Menschen voreinander schützt. Denn der Mensch ist, so Hobbes, nicht nur ein Gott für den anderen Menschen, er ist auch ein Wolf für ihn. Diesen ‹Leviathan› einzudämmen, legitimiert den Absolutismus, das Sonnenkönigtum. Wie ein Pendelschlag entwickeln sich dann die Vorstellungen, weil der Herrscher ein ungerechter Herrscher sein kann, wie diese Staatsgewalt ihrerseits nun wieder eingedämmt werden könne. Charles Montesquieu (1689–1755) in Frankreich entwirft die Idee von Gewaltenteilung, von Legislative und Exekutive, von gesetzgebender und gesetzvollziehender Macht, übrigens in einem Idealbild, das unsere heutige politische Ordnung weit überragt.

Und im Islam des 20. Jahrhunderts?

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Weltgeschichte verläuft periodisch als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das heißt mit anderen Worten, es gibt keinen generellen Fortschritt, sondern es gibt Kulturräume, die sich in verschiedenen Strukturen, Zuständen befinden, wobei die eine Kultur einmal vorausgeht, um dann später Zustände zu durchlaufen, die andere Kulturen bereits durchlebt haben.

Im islamischen Kulturkreis gibt es diese Säkularisierung nicht, zunächst nicht. Kemal Pascha (später ‹Atatürk› = Vater der Türken), der Begründer der Republik Türkei, versuchte, mit der Abschaffung von Sultanat und Kalifat aus dem Osmanischen Reich eine dem Westen ähnliche Gesellschaftsordnung aufzubauen. Was in Europa mit dem Wormser Konkordat von 1122 als Trennung von Staat und Kirche als Prozess über Jahrhunderte verläuft, dass die weltlichen Güter der Staat vergibt, die geistlichen Güter die Kirche, das sollte in der Türkei in ein paar Jahren gelingen. Wir sehen in den letzten Jahren eine mächtige Revision in der Türkei. Das Nebeneinander von Staat und Religion kann sich nicht verankern, im Gegenteil, seit der persischen Revolution durch Ruhollah Chomeini 1979 dominiert der islamische Klerus die staatliche Gewalt.

Weltgeschichte verläuft periodisch als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das heißt mit anderen Worten, es gibt keinen generellen Fortschritt, sondern es gibt Kulturräume, die sich in verschiedenen Strukturen, Zuständen befinden, wobei die eine Kultur einmal vorausgeht, um dann später Zustände zu durchlaufen, die andere Kulturen bereits durchlebt haben. Das kann sich also jeweils ändern. In meinen Augen war der islamische Kulturbereich im Mittelalter, vor allem im Frühmittelalter, der europäischen Kultur noch weit überlegen. Dann hat Europa mächtige Schritte unternommen, die im Islam ausblieben, Schritte, die das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen von Grund auf veränderte.

Damit ist die Aufklärung gemeint?

Ja, und durch sie hat sich der Einzelne emanzipiert. Dazu bedurfte es dieser Schritte. Die Begegnung und Konfrontation der Religionen bedeutet nun, dass der Islam diese Schritte, natürlich auf seine Weise, auch wird gehen müssen.

Janos Darvas beschrieb, dass viele muslimische Kulturen sich noch in einem Mars-Zeitalter befänden, während Europa auf dem Weg ins Merkur-Zeitalter sei.

Ob wir Merkur erreicht haben, da bin ich mir nicht so sicher, auf jeden Fall beschreibt dieser Blick die genannte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.


Foto: Samer Daboul

Foto: Samer Daboul

Wie ist auf diesem Hintergrund der Syrienkonflikt zu verstehen?

Er beginnt als eine Demokratiebewegung, eine Freiheitsbewegung. Kinder haben an Wände geschrieben: «Schafft den Assad ab!» Die Kinder werden verhaftet. Darauf fordern die Eltern den Rechtsstaat und wollen den Prozess gegen die Regierung. Dann antwortet diese: «Wenn ihr Kinder wollt, dann bringt neue zur Welt.» Das war der menschenverachtende Anfang des Syrienkriegs. Dann bricht es los als Revolution, die aber sogleich die Großmächte auf den Plan ruft, wegen der konfessionellen Hintergründe. Da ist der Iran, weil er den Alawiten Assad stützt, weil diese Sekte zu den Schiiten gehört. Die Saudis, weil die Sunniten, in Syrien zahlenmäßig die Mehrheit, unterdrückt werden. Russland ist von Beginn beteiligt, weil dessen Marine in Latakia und nun in Tartus strategische Stützpunkte unterhält. Damit steht und fällt die russische Präsenz im Mittelmeer. Dabei darf man nicht vergessen, dass Baschar al Assad aus der säkularisierten Baath-Partei hervorgegangen ist. Er war deren Generalsekretär. Aus dieser Partei stammte ja auch Saddam Hussein im Irak. Einen panarabischen Sozialismus aufzubauen, das war die ursprüngliche Hoffnung dieser Partei. Von dieser säkularen Bewegung ist allerdings wenig übrig geblieben. Sobald Russland involviert ist, sind natürlich auch die USA aktiv.

… und die Türkei.

Getrieben von der Angst, dass ein kurdischer Staat, ein Kurdistan entsteht, marschiert die Türkei immer tiefer ins Grenzgebiet ein. In Syrien tobt also längst nicht mehr nur ein konfessioneller Krieg. Er spielt für einzelne Menschen eine Rolle, aber die großen Ziele sind darüber hinausgeschossen. Es geht um die Selbstbestimmung der einzelnen Menschen, es geht um die Interessen und Sehnsüchte von Staaten und schließlich geht es darum, was Großmächte verfolgen – ein Krieg auf drei Ebenen. Das sind Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg. Und dieser Krieg von 1618–1648, der Europa verwüstet hatte, ist weltgeschichtlich gestern gewesen.

Schiller betont in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, dass man diesen Kampf nur begreifen könne, wenn man verstehe, was mit der Reformation «losgetreten sei».

Ja, das ist die konfessionelle Ebene, und genauso versteht man den Syrienkonflikt nur, wenn man bedenkt, was mit der iranischen Revolution 1979 losgetreten wurde. Es war eine religiöse Revolution mit dem Aufblühen des Schiitismus und den daraus folgenden Spannungen in der arabischen Welt. Dabei spielen vielfältige Minderwertigkeitsgefühle eine Rolle. Das gilt auch für die USA, die damals aus dem Iran herausgeworfen wurden und sich mit der Befreiungsaktion der amerikanischen Botschaftsmitglieder aus der US-Botschaft in Teharan 1980 blamierten.

Ob Großbritanniens EU-Austritt, Russlands Annexion der Krim, die Kraftmeierei der Türkei: Viele Nationen scheinen Sehnsucht nach ihrem ehemaligen Status als Großmacht zu haben. Ragt da die unverarbeitete Vergangenheit herein?


Foto: Samer Daboul

Foto: Samer Daboul

Das erscheint mir als die Spitze des Eisberges. Es geht um etwas Umfassenderes, nämlich dass die Hälfte der Menschheit gar nicht mitgenommen wurde, gar nicht in der Gegenwart angekommen ist. Der Traum von einer starken Nation, vom großen gewaltigen Imperium ist ja im Grunde nichts anderes als der Traum von einem großen Ich. Wer sein Ich noch nicht gefunden hat, noch nicht hat bilden können, der sucht diesen Ich-Ersatz des Nationalen. Das ist bei uns in Europa nicht viel besser, wenn wir den Rechtsruck in den Parlamenten Europas anschauen. Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass der Westen seine Religion vergessen hat, seinen christlich-kulturellen Kern. Das Christentum ist die Religion der Mitmenschlichkeit, der Fähigkeit, im Miteinander und Füreinander seine Identität zu bilden. «Indem du im anderen Menschen den Bruder siehst und ihn aufnimmst, nimmst du mich auf.» Das ist die christliche Botschaft. Die Aufklärung hat das Zwischenmenschliche abstrakt und rational werden lassen. Wir reden viel davon, wie man das Soziale ‹regelt›, und haben zugleich diese Herzregion verloren.

Mahmud Kiliç, Generalsekretär der islamischen Konferenz, betonte am Goetheanum, dass sich die Religionen nicht an ihrer Haut, sondern in ihrem Kern begegnen würden. Der sei aber in Europa kaum zu finden.

Das meine ich. Wir haben das Christliche wegsäkularisiert und zugleich fehlt uns ein bestimmter Grad an Wachheit. Mich selbst hat das Schicksal nicht nur einmal an die Schwelle zwischen Leben und Tod geführt, und deshalb weiß ich vom Unterschied, ob ich eine geistige Realität nur als Metapher verstehe oder ob sie für mich erkannte und erlebte Wirklichkeit ist.

Ist das damit gemeint, dass die Aufklärung nur zur Hälfte geschehen ist?

Der Bruderherzschlag gehört dazu. Dann kann ich Geflüchteten nicht mehr die Rote Karte zeigen. Das meint nicht, dass wir die Supermärkte für alle öffnen, aber der andere muss gleichwohl gerettet werden. Dann muss man etwas gemeinsam machen, aufbauen und dabei kann es dann nicht mehr um den eigenen Vorteil gehen. Wenn ich den Bettler aufnehme, habe ich die Flöhe im Haus.

Europa hat vom Opiumkrieg in China über das Gold der Inkas bis zur Ausrottung der Indianer auf allen Kontinenten Schuld auf sich geladen – ist das der Hintergrund der Flüchtlingssfrage?

Da gibt es ein Karma der Weltgeschichte, aber damit ist Europa ja nicht alleine. Europa hat sich seit dem 15. Jahrhundert am Rest der Welt versündigt, davor haben andere Kulturen entsprechend gewütet. Europa war die führende Macht und dominierte zu seinem Vorteil. Die Inkas haben in früherer Zeit gewaltige Eroberungskriege geführt und ihre Nachbarn deportiert und versklavt. Vom Mongolensturm über die Hunnenkriege, da lernen wir in der Schule von vielen solchen Herrschaften.

Worin besteht die Herausforderung heute?

Es gibt wohl nicht ‹die› Herausforderung, es gab wohl keine Zeit, in der weniger Rezepte und klare Strategien die Lösung bedeutet haben. Es ist ein einfacher, ein viel zitierter Satz, aber er ist deshalb nicht falsch: Es kommt auf den Einzelnen an, dass er, dass sie an seinem/ihrem Ort, in seiner/ihrer Gegenwart etwas dafür tut, dass es zu einem Ausgleich kommt, dass Menschlichkeit herrscht. Dass es in jedem Augenblick und an jedem Ort darauf ankommt, ist wohl ein Signum dessen, was Rudolf Steiner als den Gang über die Schwelle beschrieben hat. Deshalb bin ich Lehrer geworden. Ich kann meinen Schülern kein Rezept, keine Lösung geben, aber ich kann und will ihnen zurufen: «Werdet Ichs, folgt euren Impulsen!»


Zu den Fotografien: der 21-jährige Student Samer Daboul studiert Medien an der Freien Universität in Aleppo, Syrien. Sein Bruder schenkte ihm eine Kamera, als er 17 wurde, und seither fotografiert er sein Leben, Blumen und Landschaften. www.samerdaboul.com


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