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Waldorf heißt, den inneren Schwächling trainieren

Am 21. März kritisierte ein Artikel in ‹Zeit-Online› die Waldorf-Kitas als «eine Abkehr von allem, was einem Angst macht und verunsichert».(1) Philipp Reubke, Koordinator der International Association for Steiner/Waldorf Early Childhood Education, erklärt hier, dass Waldorferzieher ganz umgekehrt Erkenntnis und Sozialfähigkeit durch bewusste Pädagogikgestaltung zu fördern versuchen.


Die Fähigkeit zu differenzierterer, genauerer, reicherer, feinerer und schließlich nicht nur an die Sinne gebundener Wahrnehmung und Erkenntnis hängt mit einer gesteigerten inneren Aktivität zusammen: zum Beispiel mit Aufmerksamkeit und der Fähigkeit, innere Bilder zu schaffen. Auch die Qualität der an die Sinne gebundenen Erkenntnis hängt hiervon ab: Der ohne meine eigene Aktivität des Denkens gar nicht für mich vorhandene Begriff erschließt erst das Wesen des Wahrgenommenen. Selbst die Zusammenarbeit und das Zusammenleben in einer Zeit, in der wir immer gleichgültiger aneinander vorbeigehen, hängen davon ab, durch innere Aktivität ein «liebe- und hassfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken».(2) Von alleine geht heute nichts − meint Rudolf Steiner. Durch automatisches, reflexartiges Denken, und sei es noch so intelligent, bleiben wir nur an Äußerlichkeiten haften und kommen in soziales Chaos. «Leer und öde wird die Welt, wenn nicht immer von Neuem aus dem Inneren der Menschennatur aufquellen kann, was die äußere Anschauung durchsetzt mit Geist und Seele.»(3)

Was hat Waldorfkindergarten mit Erkenntnis und Sozialfähigkeit zu tun? Hier und schon vorher zu Hause und in der Krippe handelt es sich darum, alles zu tun, um die beim kleinen Kind noch dynamische und bewegliche Lebens- und Vorstellungskraft möglichst intakt und stark zu erhalten. Das, was kürzlich wieder in einem verärgerten und spöttischen Artikel als «rückwärtsgewandter», fortschrittsfeindlicher Charakter des Waldorfkindergartens bezeichnet wird (4), hängt genau damit zusammen. Wenn es hier einfache rudimentäre Objekte gibt, aber kein Playmobil, dann deshalb, weil das Kind aus eigener Fantasie ergänzen soll, was dem Objekt fehlt. (5) Ein komplexes, perfekt gestaltetes Spielzeug «knebelt die schöpferische Fantasie des Kindes», schreibt eine französische Pikler-Pädagogin. (6) Wenn es hier nur zarte Töne und Farben gibt, aber keine Filzstifte und munter machende Musik von der CD, dann deshalb, weil die Feinfühligkeit und Sensibilität des Kindes nicht von vorneherein betäubt werden soll. Und wenn immer wieder einfache, für manche Leute wenig ansprechende Arbeit gemacht wird, dann deshalb, weil das Kind erleben soll, dass alles, was man sehen, betasten und gebrauchen kann, einmal entstanden ist und bald vergehen wird. Ein Kindergarten, in dem das meiste (inklusive Einrichtung) von Erziehenden oder Eltern im Beisein der Kinder gemacht wird, wäre perfekt, um dem unter Erwachsenen weit verbreiteten Glauben entgegenzuwirken, dass Dinge, Menschen und Verhältnisse immer so sind, wie wir sie gerade jetzt erleben. Als kleines Kind richtige Arbeit erleben – um nicht ein ganzes Leben lang am naiven Gegenstandsbewusstsein zu kleben! Anders als sensationelles Spielzeug oder Filme fasziniert richtige Arbeit – ohne die Initiativkraft lahmzulegen. Praktische, überschaubare Arbeit wird früher oder später Ferment für freies Spiel und reiche Fantasietätigkeit, durch die das noch schlafende Ich sich schon für seine ganz persönliche innere und äußere Aktivität im Erwachsenenalter fit macht. Eine Aktivität, die nicht selbstverständlich und unzähligen Angriffen ausgesetzt ist: «Im Inneren schwach ist die Menschheit geworden; sie fühlt nicht mehr die starke Stütze eines innerlich produktiven Lebens», sagt Steiner schon 1924. (7) Und die Tochter von Françoise Dolto fügt im Jahr 2000 hinzu: «L’ennemi de notre culture, c’est la passivité.» (8)

Die zart-energischen Vorbeugungsmaßnahmen gegen den inneren Schwächling reichen aber noch nicht für die Erziehung zur Sozialfähigkeit. Keine Ermahnungen, keine Regeln, kein Moralisieren, nein, viel schwieriger: Nur wenn der Erwachsene ganz durchdrungen ist von einer liebevollen Offenheit und Dankbarkeit für das, «was einem die Menschen geben, was einem die Menschen erweisen, was sie einem sagen, wie sie einem zulächeln» (9), und wenn sich das auch in seinen Gesten, seinem Mienenspiel und seiner Stimme ausdrückt, wirkt es tief genug auf das kleine Kind, sodass es als Jugendlicher und Erwachsener später aus freien Stücken soziales Verhalten, Liebe, Verantwortungsbewusstsein und Gottesliebe an den Tag legen kann.

Was aber, wenn Eltern täglich mit Spiderman in der Hosentasche, Totenköpfen auf Hausschuhen, Barbies auf dem Arm und Smartphones am Ohr regelrechte Angriffe auf die von der Erzieherin mit großer Anstrengung gestalteten Vorbeugungsmaßnahmen fahren? War ich auch dann als Erzieher immer durchdrungen von liebevoller Offenheit und vom Gefühl, die Welt sei gut? Eine sehr schwere Prüfung! Und doch müssten wir sie als Waldorferzieher bestehen, um die Kinder durch unser Vorbild zur Weltoffenheit und Sozialfähigkeit zur erziehen. Kindergärten sind geschützte, heilige Räume, aber keine abgeschlossenen Essäerklöster, um unseren eigenen und Elternegoismus zu befriedigen. Die Worte, die Steiner dem Rabbi Hillel in den Mund legt, gelten besonders für Waldorferzieher: «Sondere dich nicht von der Gesamtheit, trage deine Liebe hin zu deinen Nebenmenschen, denn wenn du alleine bist, was bist du dann?» (10)

Ratschläge zur Pflege des geschützt-offenen Erziehungsraums Kindergarten: Im Beisein der Kinder alles tun, um die liebevolle Offenheit zu behalten, keine Diskussion anfangen, was die Eltern dürfen und nicht dürfen. − Elternabende sind Momente, wo vor allen Dingen starkes gegenseitiges Interesse kultiviert wird: Hier erzähle ich Ausschnitte aus der Biografie und warum ich diese Arbeit mit dem kleinen Kind so wichtig finde, und ich stelle Fragen, um die Menschen kennenzulernen, die mir ihre Kinder anvertraut haben. Und erst wenn eine echte Begegnung stattgefunden hat, auf Augenhöhe, erzähle ich, warum ich den Erziehungsraum so oder so gestalten möchte und wie er wirkt. Es wird argumentiert und diskutiert, es werden künstlerische Experimente gemacht, die ausgewertet werden, es werden pädagogische Erfahrungen ausgetauscht, schließlich gibt man einander Ratschläge. Alles ist hier ganz durchwärmt und durchdrungen vom Ich: «Was mich bei Steiner so berührt hat, ist …» und nicht: «Steiner sagt, wir müssen …».

Eine völlig andere Stimmung als im Kindergarten im Beisein der Kinder! Die Stimmung der Freiheit, die das freie Spiel belebt, herrscht auch hier in der Begegnung und in den Gesprächen mit den Eltern, nur sind die Bedingungen jeweils ganz andere. Wenn das nicht vergessen wird, schafft man gemeinsam, was Waldorfkindergärten laut Anne nicht hinbekommen: «die Welt für Kinder besser zu machen» (11).


(1) «Ich sage: Waldorf heißt, sein Weltbild zu verschließen», Anne Schmidt, Zeit-Online, 21. März 2019, www.tiny.cc./zeit-waldorfkitas
(2) R. Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit. GA 186, 7. Vortrag.
(3) R. Steiner, Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehers. GA 308, 2. Vortrag
(4) Siehe Anmerkung 1.
(5) R. Steiner, Die Pädagogische Praxis. GA 306, 4. Vortrag.
(6) Regine Demarthes, in: Enfances et Psy, n° 15, septembre 2001, Edition Erès, Toulouse.
(7) R. Steiner, Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehers. GA 308, 2. Vortrag.
(8) «Der Feind unserer Kultur ist die Passivität»: Catherine Dolto-Tolitsch, Provoquer à jouer, in: Imagin’aires de jeux. Ed. par Liliane Messika, Paris (autrement) 2000.
(9) R. Steiner, Die Pädagogische Praxis. GA 306, 6. Vortrag.
(10) R. Steiner, Aus der Akasha-Forschung. Das fünfte Evangelium. GA 148, Vortrag vom 6.10.1913.
(11) Anne Schmitdt, op. cit.

Auf dem Bild: Philipp Reubke

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