exc-5ec4f56a85641b15edda5185

Wahrheitsfindung und Willensbildung

Mit der Pandemie wird das spannungsreiche Verhältnis von Politik und Wissenschaft zu einer akuten Frage. Diese Frage betrifft viele Bereiche der Gesellschaft. Im November 2019 kommentierte Philip Kovce für ‹Deutschlandfunk Kultur› dieses Verhältnis. Aus gegebenem Anlass und mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir den Beitrag an dieser Stelle erneut.


Wenn dieser Tage über das Impfen oder den Klimawandel, über Homöopathie oder Glyphosat gestritten wird, dann wird immer wieder ungut vermischt, was aus guten Gründen fein säuberlich getrennt gehört: nämlich Wissenschaft und Politik.

Wer aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Impfungen oder Klimaschutz erzwingen beziehungsweise Homöopathie-Erstattung oder Glyphosat-Ausbringung verbieten will, der bedient sich eines politischen Taschenspielertricks. Er beruft sich auf die Wissenschaft, deren vermeintlich eindeutige Erkenntnisse er als gleichbedeutend mit politischen Forderungen ansieht und infolgedessen mir nichts, dir nichts exekutieren will.

Der Kategorienfehler, der diesem durchsichtigen Manöver zugrunde liegt, ist durchaus folgenschwer. Werden Wissenschaft und Politik zu einem Einheitsbrei verrührt, ist sowohl das wissenschaftliche als auch das politische Geschäft verdorben.

Wissenschaft ist darauf angewiesen, der Wahrheitsfindung dienen zu können. Wer sie stattdessen zur Mehrheitsfindung missbraucht, der sägt unweigerlich am Baum der Erkenntnis. Damit dieser wachsen und gedeihen kann, müssen Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre – wie es im deutschen Grundgesetz so schön heißt – frei sein.

Das heißt allerdings nicht nur, dass die Suche nach dem besten Argument sowie die ständige Bereitschaft zur Fehlerkorrektur frei von politischer Einflussnahme vonstattengehen müssen, sondern ebenfalls, dass der jeweilige Stand der Forschung, so eindeutig er sich auch ausnehmen mag, niemals politische Entscheidungen vorwegnimmt. Dass beispielsweise menschengemachter CO2-Ausstoß gemäß breitem Klimaforscher-Konsens die Aufheizung des Planeten vorantreibt, ist das eine. Was daraus jedoch politisch folgt, ist keinerlei alternativloser Zwangsläufigkeit unterworfen und nicht akademisch, sondern demokratisch zu entscheiden.

Womit wir bei der Aufgabe der Politik wären. Sie besteht gerade nicht in der Wahrheitsfindung, sondern in der Willensbildung. In einer freien Gesellschaft gleicher Bürger ermöglicht sie die andauernde Abstimmung öffentlicher Anliegen. Wer diese Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit den anderen scheut und stattdessen lieber Einsichten aus dem Elfenbeinturm als höherstehende Gebote ausgibt, der betreibt letztlich eine Politik der Politikvermeidung und diskreditiert die deliberative Demokratie.

Die Popularität derartiger Politikverhunzung und Wissenschaftsverstümmelung hängt nicht zuletzt mit zwei akuten Problemen zusammen: dem Relevanzdefizit der Wissenschaft sowie dem Legitimationsdefizit der Politik.

Der drittmittelgetriebene ‹homo academicus› der peer-reviewten Häppchenforschung erhofft sich mittels Politisierung seines Spezialwissens ungeahnte Relevanzressourcen zu erschließen. Nicht anders das postdemokratische ‹zoon politikon›, das seine Forderungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen verkauft – in der Hoffnung, vom Objektivitätsanspruch der Wissenschaft subjektiv zu profitieren.

Tragisch ist dies insofern, als es auch den Blick darauf verstellt, wie Wissenschaft und Politik eigentlich zusammenhängen. Beide, Wissenschaft und Politik, leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können: Die Wahrheitsfindung der Wissenschaft bedarf politischer Freiheit ebenso wie die politische Willensbildung wissenschaftlicher Erkenntnis. Wahrheitsfindung ohne Freiheit endet in Ideologie; Willensbildung ohne Erkenntnis in Willkürherrschaft.

Um Ideologie und Willkürherrschaft wirksam vorzubeugen, sind aufmarschierende Wissenschaftler oder dozierende Politiker freilich das Letzte, was wir brauchen. Ausgerechnet sie sind nämlich die Ersten, die Wissenschaft und Politik fatalerweise durcheinanderwerfen.


Quelle Philip Kovce, Wissenschaft und Politik bitte streng trennen!, in: ‹Deutschlandfunk Kultur: Politisches Feuilleton›, 5. November 2019.

Titelbild: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Quelle: Couleur auf Pixabay

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare