Der Kosmos wirkt nicht, er lädt ein, er erwartet. Diese Erwartung offenbart sich in einem Himmelsschauspiel in drei Akten: der Großen Konjunktion Weihnachten 2020, dem Ostertanz von Mars und Venus im Frühjahr 2022 und dem Konzil aller Planeten an Johanni.
Jetzt am Nachthimmel stehen Jupiter und Saturn als weißer und gelber Lichtpunkt fast 20 Grad auseinander und doch klingt ihre außergewöhnliche Konjunktion vom 21. Dezember 2020 nach. So eng wie seit 500 Jahren nicht mehr standen die beiden Planetenriesen zusammen. Die Große Konjunktion der mächtigen Wandler ereignete sich am Tag der Wintersonnenwende und erweiterte damit diese Zusammenkunft um die Sonne. Als Wintersonne zieht die Sonne ihren tiefsten Bogen, sendet am wenigsten Licht und Wärme. Die Sonne der Wintersonnenwende repräsentiert deshalb vielmehr die geistige Sonne, die nicht äußeres Licht sendet, sondern in die Seelen leuchtet. Die Wintersonne steigt aus ihrer tiefsten Stellung wieder empor und wurde deshalb im Mitras-Kult als die unbesiegt Sonne, die ‹sol invictus› angesprochen. Die Große Konjunktion war somit ein Zeichen der neuen Sonne, des neuen Lebens. Außerdem war der Kleinplanet Pluto, der sonst weit über oder unter der Tierkreisebene zieht, Teil der Begegnung. So wurde diese Große Konjunktion zu einem mächtigen Bild von Tod (Pluto) und neuer Geburt (Wintersonne). Mit Jupiter und Saturn sind dabei die beiden Seiten des Ich repräsentiert: Jupiter steht für Erkenntnis, für die Gedankenkraft, und Saturn für Empfindsamkeit. Distanz und Freiheit zur Welt. Emanzipation und Vereinigung mit der Welt, diese Spanne und das fortwährende Spiel des Ich zeigen Jupiter und Saturn. Nun sind einzelne Konstellationen Momentaufnahmen eines fortwährenden Wandels, vergleichbar einem einzelnen Ton in einer Symphonie. Es lohnt sich deshalb, zu schauen, aus was Konstellationen hervorgegangen sind und in was sie sich entwickeln.
Aufbruch aus dem Nullpunkt
Tatsächlich findet im Jahr 2022 ein nächster Akt dieses Himmelsschauspiels statt, der die große Weihnachtskonstellation noch einmal steigert. Es beginnt am letzten Tag des Jahres 2021: Kaum sichtbar am Morgenhimmel zieht Mars am Hauptstern des Skorpions vorbei. Antares heißt ‹Wie Ares, wie Mars› und ist wie kein anderer Stern dem roten Planeten verwandt. Im Sommer beeindruckt seine funkelnde Strahlkraft, in der sich die Energie des dramatisch geschwungenen Tierkreisbildes Skorpion zu sammeln scheint. Das Bild ist hell, und gerade durch diese Helligkeit wird die Dunkelheit dieser Sternregion so anschaulich. Was man gern übersieht: Der Skorpion teilt sich dieses Feld des Tierkreises mit Asklepios, dem Schlangenträger. Es ist ein zartes weites Rund, das sich oberhalb des Skorpions spannt und Heilung und neues Leben verspricht. Hier steht Mars nun, der rote Planet, beim roten Stern. Interessanterweise ist dort, wo der Skorpion seinen Stachel am Schwanz hat, das galaktische Zentrum der Milchstraße. Dort liegt der Masseschlund, das vermutete schwarze Loch unserer Galaxie. An dieser Schwelle von Tod und neuem Leben und am Silvestertag tritt die Mondsichel hinzu und schweißt damit Planet und Stern zusammen. Es ist ein Nullpunkt, ein Moment der Wende, des Schmerzes, über dem sich wie ein gewaltiges Versprechen das neue Leben des Asklepios baut.
Am 9. Januar zieht nun Venus vor der Sonne vorbei und wechselt in den Morgenhimmel und schon einen Tag später ist Venus in der Morgendämmerung zu sehen und nach weiteren zwei Wochen hat sie Mars erreicht. Jetzt beginnt der Tanz! Im Abstand von sechs Grad stehen beide Planeten in gleicher Höhe über der morgendlichen Landschaft. Es ist die gleiche Tierkreisstelle, in der sich die Große Konjunktion ereignete, der Raum zwischen Schütze und Steinbock. Der Schütze füllt mit seinen vielen Sternen ein Feld, der Steinbock bildet mit seinen Sternenlinien eine Hülle. Dort, wo Kern und Hülle, Zentrum und Umkreis sich als Sternbilder begegnen, dort finden diese planetarischen Zusammenkünfte statt, und so stimmen auch die Sterne in das Credo von Jupiter und Saturn 2020 und jetzt von Venus und Mars 2022 ein: Es geht um die Einheit von Zentrum und Peripherie, von dem, was das Ich will und wonach der Umkreis fragt, bittet, es geht um die Einheit von Produktivität und Empfänglichkeit. Dieser Gegensatz, der sich – davon war letztes Jahr hier die Rede – in Jupiter und Saturn zeigt und auch in den beiden Seiten des menschlichen Antlitzes. Denn der Blick auf ein menschliches Gesicht verrät, dass das rechte Auge sich nach außen richtet, während das linke hineinzuschauen scheint. Mit der Begegnung von Mars und Venus rückt dieser Gegensatz von Jupiters Erkenntniskraft und Saturns Transzendenz astronomisch und auch seelisch näher. Mit Mars und Venus kommen nun Wille und Liebe in ein Gespräch. Tatsächlich ist es ein Gespräch, denn anders als bei der Begegnung von Jupiter und Saturn kommen diese Planeten nicht zu einer einmaligen Konjunktion zusammen, nein, als würden sie sich an den Händen halten, sind diese beiden Planeten über Monate miteinander vereint. Es ist ein Tanz, den die beiden irdischen Nachbarn am Morgenhimmel zeigen!
Das Auge ruft die Hand
Aus den sechs Grad Distanz werden im Februar vier Grad. Tag für Tag steht im Morgengrauen das Doppelgestirn am Horizont und jeden Tag verschiebt, verlagert sich der Winkel des Duos. So scheint Morgen für Morgen der Ruf sich anzuheben, Venus und Mars in der Seele zu vereinen, Liebe und Kraft zusammenzuführen. Was heißt das? Das mag bedeuten, in jede Handlung Liebe zu gießen, in jedes ‹ich will› die Frage einzuschließen, was sich andere von mir wünschen, auf welche stille Erwartung die eigene Tat trifft. Von Wolfgang Schad stammt der Gedanke, dass Goethes ‹Faust› das Drama des 20. Jahrhunderts sei und sein Werk ‹Wilhelm Meister› das des 21. Jahrhunderts. Während Faust seinen eigenen Willen erfüllt und so eine Spur des Todes zieht, ist bei Wilhelm Meister von einer Menschengruppe die Rede, geht es um das Spiel von Sehen, Verstehen und Handeln einer Gemeinschaft. «Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.» Das schreibt Goethe in seinen Reflexionen und Maximen. Heute, so darf man vermuten, wird aus diesem Entweder-oder von Handeln und Betrachten ein Sowohl-als-auch. Im Spiel vom Betrachten und Handeln, von Saturn und Jupiter senkt sich die Liebe in die Tat. Einer der berührendsten Momente im zwölfjährigen Waldorfschülerleben ist die erste Formenzeichenepoche. Die Hand fährt mit dem Stift eine Acht, eine Spirale oder eine andere schwierige Form auf das Papier und das Auge folgt der Spur und ruft Hand und Stift immer wieder auf die ideale Bahn. Bloß nicht radieren, denn der schiefe Zug ist nicht falsch, er hat vielmehr das Auge geweckt für die Korrektur! In der ‹Faust›-Inszenierung am Goetheanum saß ich als Dramaturg oft neben der Regisseurin Andrea Pfaehler. Weil hier jede Korrektur den Schauspieler, die Schauspielerin fördern und nicht behindern soll, ist ihr Regiewille fortwährend im Gespräch mit dem Können und Wollen der Spielenden. Der von Venus inspirierte Wille beginnt mit einer Frage.
Das Zusammenleben ist voller Beispiele dieses stillschweigenden Spieles von Frage und Antwort im Willensleben. Wer im fernen China an einem gemeinschaftlichen Essen teilgenommen hat, wird es erlebt haben. Als Europäer, Europäerin macht man zwei Lektionen durch. Man sitzt mit acht oder zehn Menschen mit einem kleinen Teller an einem runden Tisch. Die Speisen werden auf eine zweite kleinere drehbare Platte in der Mitte des Tisches gestellt. Man möchte die Nudeln und dreht die Platte. Doch damit reißt man einer anderen Person, die sich gerade beim Reis bedienen wollte, die Schüssel weg. Also lernt man, zuerst den Blick in die Runde zu werfen, ob sich gerade jemand bedient. Dann folgt die zweite Lektion: Wieder dreht man die Scheibe und hat übersehen, dass ein Tischnachbar gerade die Intention hatte, die Platte in die andere Richtung zu bewegen. Lektion Nummer zwei: Es reicht nicht, zu schauen, ob sich jemand gerade bedient, man muss auch wahrnehmen, ob jemand vorhat, sich gleich zu bedienen. Welch ein Lernfeld! Während man in Europa mit «Könnte ich bitte die Butter haben» zu Tisch das eigene Bedürfnis adressiert, gehört zur chinesischen Tischkultur, das tatsächliche und das intentionale Willensleben der ganzen Gemeinschaft wahrzunehmen, bevor man handelt. Rudolf Steiners Halbsatz : «Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft», wird so mit jeder Tischgemeinschaft Gewohnheit.
Fühlst du, was ich wollen werde?
Es folgt dem viel zitierten Hinweis, dass von Klimakrise bis Religionsfrieden die Lösung darin liegt, die Dinge und nur die Dinge zu unternehmen, die aus Liebe geschehen. Wohl nirgends ist es so einfach notiert wie im Brief an die Korinther von Paulus: «Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.» Alles um und aus der Liebe zu tun, das ist die eine Seite des Rufes. Die andere dreht es herum und fragt danach, den Mars der Venus zur Seite zu stellen, jede Liebesregung zur Tat werden zu lassen. Das bedeutet, den Willen nicht aus den eigenen Intentionen zu führen, sondern das paulinische ‹Dein Wille geschehe› zum Mitmenschen zu sagen. Damit ist die dritte und anspruchsvollste Form der Empathie gemeint. Es ist nicht schwer, zu verstehen, was jemand meint, wenn er oder sie spricht. Es ist schon schwieriger, die Gefühle dahinter mitempfinden zu können. Die hohe Schule ist es, den Willen, der im anderen schläft, in sich zu entfalten und so Empathie in Engagement zu wandeln. Claus Otto Scharmer nennt es in Anlehnung an Rudolf Steiners dreifache Menschenbeobachtung das ‹schöpferische Hören›.1 Folgende Szene bringt die drei Stufen der Empathie ins Bild: Ein Paar fährt im Auto und sie möchte eine Pause einlegen und wendet sich an ihn. «Möchtest du einen Kaffee?» Seine Antwort: «Nein.» Er hört nicht den Wunsch, sondern allein die faktische Ebene. Diese Art des Verstehens kann jeder Computer erfüllen. Erst ein empathisches Hören vermag zwischen den Zeilen den Wunsch zu fassen, und antwortet mit: «Ja!» Die eigentliche Freundschaft beginnt erst beim schöpferischen Hören. Hier kommt man der Frage zuvor, weil man die Intention, den Willen seines Gegenübers zu spüren vermag, und bevor der Wunsch geäußert wird, schlägt man vor: «Wir sollten jetzt Kaffee trinken.» Die oder der Angesprochene hört es und spürt im nächsten Moment, dass genau das ihr oder sein Wunsch ist, aber dieses Bedürfnis noch nicht das Bewusstsein erreicht hatte. Der oder die andere wird zur Hebamme des noch schlummernden eigenen Willens – welch ein Geschenk! Es gibt wohl kaum etwas Verbindenderes als dieses ‹Dein Wille geschehe› im Sozialen. Es dokumentiert die Freundschaft. Hier senkt sich die Liebe in die Tat.
Jeden Tag lohnt es sich, den Blick zum Morgenhimmel zu richten, um sich von der täglich wechselnden Konstellation von Venus und Mars inspirieren zu lassen. Einmal im Monat stellt sich die Mondsichel zu dem Planetenpaar und schweißt so die beiden planetarischen Nachbarn der Erde enger zusammen.
Vom Duett zum großen Konzert
Der Abstand der beiden Planeten bleibt auch in der Vorosterzeit erhalten. Anfang April tritt Saturn zu den beiden Wandlern hinzu. Der ferne Planet wird dem Gespräch von Wille und Liebe vermutlich Tiefe schenken. Mit diesem saturnischen Bild endet der Tanz von Venus und Mars an Ostern. Es beginnt der dritte Akt: Jupiter fügt sich nun links zu den drei Planeten, im Mai kommt dann Uranus hinzu und im Juni schließlich tief am Horizont Merkur. An Johanni und den Tagen davor sind damit alle Planeten, von Merkur bis zum Kleinplaneten Pluto, am morgendlichen Firmament versammelt, und das in seltener kopernikanischer Ordnung: Merkur-Venus-Mars-Jupiter-Saturn und dazwischen eingefügt die Transsaturne: Uranus-Neptun-Pluto. Es lässt sich wohl kein stärkeres Bild denken, um das Ganze, die Gesamtheit, in die Waagschale zu legen, als wenn alle Planeten in einer Reihe versammelt sind. Das geschieht in den Tagen von Johanni, dem Fest des Täufers, der im Angesicht des Sohnes zurücktritt. «Jener muss wachsen, ich aber muss schwinden», lässt der Maler Matthias Grünewald in seinem Altarbild den Täufer (Joh. 3.30) aussprechen. Dieses Schwinden bedeutet wohl nach der Selbstvergewisserung durch die Konjunktion Jupiter und Saturn und der Einweihung in die Begegnung durch den Tanz von Venus und Mars nicht, die Persönlichkeit einzubüßen. Im Gegenteil: Das Ganze so fassen zu vermögen, lässt sie weiter wachsen.
Zukunftsmusik
Die Konjunktion von Jupiter und Saturn brachte den einzelnen Menschen ins Bild, denn Jupiter strahlt hinaus und Saturn scheint alles Licht in sich aufzunehmen. Damit zeigen die Planetenriesen einen Gegensatz, der sich in jedem Menschen abspielt und im Antlitz ins Bild kommt, der Atem von Innen und Außen, von Produktivität und Hingabe. Jetzt weitet sich die Konstellation über den Ostertanz von Venus und Mars zum Konzil des gesamten Planetensystems. Man könne, betont Rudolf Steiner immer wieder, nur in einem solchen Maß von einem ‹Ich› bei sich sprechen, so weit man die ganze Welt in sich aufzunehmen vermag. Diese große Seite zeigt sich im Mai und Juni, wenn sich alle Planeten in eine Reihe stellen. Welch vollkommene Geometrie! Es scheint, als würde das gesamte Sonnensystem zum Zeugen der Großen Konjunktion.
Dieses aktuelle Himmelsschauspiel liefert vermutlich mehr Fragen als Antworten. Das ist das Kennzeichen eines Rufes, einer Einladung. Es fragt danach, aus der Begegnung mit sich selbst fähig zu werden, mit den nahen und fernen anderen tanzen zu lernen, mit der Natur tanzen zu lernen. Tanzen heißt, die Begegnung zu zweit ganz und gar zu erleben und das Ganze im Blick zu haben. Tanzen heißt, den Atem zwischen der kleinen und der großen Gemeinschaft schwingen zu lassen. Aus all den vielen einzelnen Menschen wird ein Ganzes – die Menschheit. Wie ein Versprechen, eine Zukunftsmusik wölbt sich dieses Ganze über die Landschaft.
Weitere Hinweise und Hilfen zur Beobachtung: Wolfgang Held, Sternkalender 2022/2023. Dornach 2021.