Ein kleines Buch zu einem großen Thema: Tod und Sterben. Warum es wichtig ist, das Sterben zu üben, zeigt der anthroposophische Arzt Volker Fintelmann.
In einer Zeit, in der sich viele ans irdische Leben klammern, gibt Volker Fintelmann Anregungen zum bewussten Umgang mit dem Tod als selbstverständlichen Teil des Lebens. Seit der Coronapandemie ist ein gesellschaftliches Tabu ins Zentrum des kollektiven Bewusstseins gerückt: der Tod als Feind, den es durch politische Maßnahmen zu verhindern galt, der einen Schleier aus Angst über die Erde fallen ließ. Der Autor spürt diesem Zeitphänomen nach und fragt sich, was den Lebenden der Tod ist und was das Leben. In unserer Zeit werden diese Begriffe entgegengesetzt gebraucht. Das eine schließt das andere aus. An der Erfindung der Unsterblichkeit wird hart gearbeitet. Vielleicht ist Sterben bald überholt?
Fintelmann arbeitet an der Sinnfrage des Todes. Warum eigentlich sterben? Bei Rudolf Steiner heißt es, der Tod ist «das Größte, das Schönste, das Erhabenste, denn es ist der Sieg des Geistes über die Materie.» Mozart nannte ihn «den wahren Endzweck unseres Lebens und den wahren, besten Freund.» Diese Stimmen aus der Vergangenheit stehen den transhumanistischen Bestrebungen von heute gegenüber. Aber sind diese alten Stimmen nicht beruhigend? Getragen von der religiösen Grundhaltung und dem medizinischen Wissen des Autors können Lesende ein Verständnis entwickeln von sich durchdringenden Lebens- und Todesprozessen. Mit dem Blick in die Zell-Erneuerung wird sichtbar, wie auf jeden kleinen Tod in der Zelle das Leben antwortet und triumphiert. Allem Leben wohnt das Sterben inne. Zu leben heißt, viele Tode zu sterben. Neben den lebenslangen Todesprozessen stehen zugleich die Pforten des Lebens immerzu weit offen. Dieses Wissen gehört allerdings nicht zum Alltagsbewusstsein. Weil der Tod heute für viele etwas Absolutes ist, wird er ausgegrenzt. Am Märchen vom Gevatter Tod zeigt der Autor das Dilemma moderner Medizin. Das Märchen erzählt von einem Tod, mit dem sich zwar verhandeln lässt, der sich aber nicht überlisten lässt. Ich, als Leserin ertappe mich in der Hoffnung, dass das so bleiben möge. Einen natürlichen Tod zu sterben, wird angesichts der technisierten Möglichkeiten zur Lebenserhaltung schwieriger. Auch die ethische Herausforderung eines Arztes oder einer Ärztin, die Todesstunde eines Menschen zu erkennen und zu gestatten, beschreibt das Buch.
Im hinteren Teil des Buches folgen dann praktische Anregungen. Um im Leben das Sterben zu üben, empfiehlt der Autor die Wahrnehmung zu schulen, denn mit ihr beginne jeder Erkenntnisprozess. So kann beim Malen verschiedener Lebensstadien von Pflanzen der Blick in die sich wandelnde Natur Weisheiten des ewigen Lebens offenbaren. Zudem kommt es im reinen Wahrnehmen des Objekts zu einem Sterbevorgang des inneren Selbst des Beobachtenden: Er oder sie vergisst sich selbst. Es geht darum, das ‹Werde und Vergehe› der Pflanzenwelt zu erleben, Blumen im Garten beim Verwelken zu begleiten bis schließlich der erste Frost der Pracht der Sonnenblumen und Herbstastern ein Ende bereitet. Daran erlebt der oder die Übende bewusst, wie sich etwas Liebgewordenes verändert und lernt es loszulassen. Es sind also vor allem Übungen im Wahrnehmen und Loslassen, die helfen können, Sterben als Teil des Lebens anzunehmen. Zudem bringt die Schulung der Wahrnehmung Bewusstseinsprozesse in Gang, die Rudolf Steiner auch als Sterbeprozesse bezeichnet. Durch genaues Wahrnehmen und Zeichnen wird somit in mehrfacher Hinsicht der Sterbeprozess erlebbar.
Volker Fintelmann schildert zudem, wie durch bewussten Verzicht, durch das Aufgeben geliebter Gewohnheiten das Sterben erübt und auch der Krebskrankheit entgegengewirkt werden kann. Hier werden Zusammenhänge deutlich, die zu kennen, ich den Lesenden wünsche. Ein Gedanke, der mir beim Lesen kam, war, dass es sicherlich eine hervorragende Übung ist, Kinder zu empfangen und großzuziehen. Wie viele Anteile des Selbst, wie viele Wünsche und Bedürfnisse gibt eine sorgende Mutter auf für ihr Kind? Insofern lässt sich gezielt im Leben das Sterben üben.
Welchen Übungsweg man auch gehen mag, ob gezielt oder intuitiv, Volker Fintelmann bereichert ihn durch seine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Tod. Das Büchlein steckt voll schöner Zitate. Am meisten berührt hat mich dabei das Wort von Goethe, der im hohen Alter gelassen dem Ende seines Lebens entgegensieht. Für ihn ist «unser Geist, ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur – der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.» Fintelmanns Buch ist reich an Gedanken und Haltungen, die den Umgang mit dem Tod in eine annehmende Geste verkehren.
Buch Volker Fintelmann, Im Leben das Sterben üben. Anregungen zu einem bewussten Umgang mit dem Tod Info3-Verlag, Frankfurt a.M. 2022