Vom Innenmaß der Dinge

Marica Bodrožić führt in ihrem neuen Buch ‹Pantherzeit› wahrhaftig einen «Tanz von Kraft um eine Mitte» vor. Doch ihr Wille ist alles andere als betäubt, wie es von dem Panther in Rilkes Gedicht weiter heißt. Die Autorin hat es während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 über zwei Monate jeden Abend um 20 Uhr von dem Balkon ihrer Berliner Wohnung rezitiert. Ihr eigener Tanz ist ein sehr persönlicher, und doch so beispielhaft, dass auch ich als Leser unwillkürlich in einen Tanz um meine eigene Mitte gerate.


«Der Frühling ist gekommen», lautet der erste Satz nach der Wiedergabe des Rilke-Gedichtes. Und der letzte Satz, 250 Seiten später: «Gerade jetzt zeigt uns der Tod, dass es die innere Landschaft des Lebens gibt, dass der Urgrund des Seins wirksam ist und dass das Leben zu uns allen als ein geschenktes spricht.»

‹Pantherzeit› zeugt von einem immerwährenden Selbst- und Weltgespräch, das in Zeiten der Pandemie an existenzieller Intensität gewinnt. Im Zustand der «Belagerung» (ein von der Autorin mehrfach verwendetes Vergleichsbild, wobei sie die jahrelangen Belagerungen von Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht in den 1940er-Jahren und von Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben in den 1990er-Jahren im Auge hat) durch ein unsichtbares, aber doch wirksames Virus wird das Leben in all seinen Dimensionen durchmessen – am Beispiel des eigenen als dem einzig legitimen Tor zum Leben als solchem, das Geburt und Tod, Freude und Schmerz, Hadern und Versöhnung umfasst; eine sich ständig entwickelnde Bewegung, die immer wieder von Neuem in große Dankbarkeit gegenüber dem Leben mündet.

Diese Bewegung geschieht aus dem Atem heraus, in dem sich das Selbst mit der Welt verwebt. «Unsere Lungen, sie sind also Lebenszeichen und Verhängnis in einem geworden. Kommt es jetzt mehr denn je darauf an, wie wir atmen und was wir sagen und wie wir es, in welchem Atemmodus, zum Ausdruck bringen, was wir denken und was wir fühlen?»1 Das Ringen um diesen Ausdruck übersetzt Marica Bodrožić fortwährend in Worte und lesbare Sprache. Während beim leiblichen Atmen im direkten Verkehr mit den Menschen gerade Gefahr droht, sind dem Atem der Seele und des Geistes keine Grenzen gesetzt. Ja, seine Möglichkeiten können gerade neu entdeckt werden – auch im Sinne einer alles ‹social distancing› überwindenden Befreundung mit der Welt, der nahen wie der fernen.

Dazu gehört auch das kritische Besinnen auf die von uns geschaffenen Verhältnisse in der Welt, die die Ausbreitung des Virus erst ermöglicht haben und nun auch einer menschengerechten Bewältigung der Krise im Wege stehen. «Die Kontrolle, der wir jetzt ausgesetzt sind, ist ein Spiegelbild unserer allumfassend betriebenen Bändigung, die wir dem gesamten Planeten und jedem Stückchen Natur aufgezwungen haben.» Ein entscheidender Umstand ist dabei unser Umgang mit der Zeit, der die Liebe ausschließt. Doch jetzt, im Lockdown, «ist die Zeit ein großer Garten», und so kann Marica Bodrožić mit Paul Celan sagen: «Es ist Zeit, dass es Zeit wird. // Es ist Zeit» (‹Corona›), dabei immer auch die eigene Mitverantwortlichkeit in den Blick nehmend. Sie zeigt ihre Betroffenheit ebenso wie ihre Zuversicht, dass durch die nach innen genommene Erfahrung des Eingesperrtseins ein Veränderungswillen in vielen Menschen keimt. Aber «[b]evor etwas neu wird, muss das Alte in seiner Radikalität und Dunkelheit aufscheinen, es muss sich als Schatten zeigen».

In ihrem Roman ‹Das Wasser unserer Träume› (2016) stand das allmähliche Wiederergreifen des eigenen Leibes durch die im Koma gefangene, in die wässrige Welt des Traumes verbannte Seele im Vordergrund, und damit die Neugeburt für das Leben in der hiesigen Welt. In ihrem neuen Buch nun geht es um das alles verbindende Luftelement, wie schon das Wolkenbild auf dem Schutzumschlag ankündigt. Ausgangspunkt ist hier das Wachbewusstsein, das durch die äußere Einsperrung sich seiner selbst verschuldeten inneren Einsperrung – seiner Selbstbelagerung – inne wird und nun ein neues Atmen erlernt.

«Am Anfang war die Hand»

Marica Bodrožić umspielt dabei denkend und schreibend ständig eine Grenze, die sowohl nach innen wie auch nach außen, gegenüber dem eigenen Unterbewussten wie auch in Richtung eines neuen Weltbewusstseins immer durchlässiger wird. In diesem Prozess (er)findet sie sich auch neu als Schriftstellerin, die sie ja längst ist: «[D]as Schreiben ist mir kein Beruf, es ist mein innerstes Leben». So erlebt sie ganz konkret, wie im Schreiben mit der Hand das Neue aus dem Schmerz entsteht – dem physischen Schmerz, dem, wie sie bemerkt, ein seelischer aus Kindheitstagen zugrunde liegt. Diesen kann sie nun neu anschauen und sich dadurch ihrer selbst neu vergewissern. Auch dies eine Neugeburt, an der ich lesend Anteil nehmen kann.

Diesem Prozess entspricht, dass die Gattungsgrenzen – Erzählung, Essay, Erlebnisbericht? – bei Marica Bodrožić immer durchlässiger werden. Je mehr sie in eine geistesgegenwärtige Wirklichkeit vorstößt, desto mehr entsteht eine ganz eigene Form von Poesie.

Grafik: Fabian Roschka

Dabei hilft ihr «die winzig kleine Hand» ihrer Tochter, die sie liebevoll bewundert und sich dabei vornimmt, dieser als etwas Zukünftigem zu dienen. «Im Anfang war die Hand», zitiert sie im Rahmen ihres Selbst- und Weltgesprächs einen Buchtitel – die eigene und die ihres Kindes. Und alle Hände, «die ich je geliebt», und auch die Hände, «die mich schlugen», die «sich selbst abhanden gekommen waren und nun über das Zuschlagen versuchten, wieder ihrer selbst habhaft zu werden. Meine Hand zeigt mir auch, dass mein Leben aus den Menschen meines Lebens besteht.» So kommt auch die Hand mit sich selbst ins Gespräch, ihre «Fingerkuppen», die als sensible Tastorgane schon in ‹Das Wasser unserer Träume› eine wichtige Rolle spielten. Aber sie dienen eben nicht nur dem äußeren Tasten – so wie die Augen nicht nur dem äußeren Sehen. Denn auch der Rücken hat Augen und nur durch diese werde ich mit dem Wunder vertraut.

Marica Bodrožić umspielt dabei denkend und schreibend ständig eine Grenze, die sowohl nach innen wie auch nach außen, gegenüber dem eigenen Unterbewussten wie auch in Richtung eines neuen Weltbewusstseins immer durch­lässiger wird.

Es sind also nicht nur die Gedanken, die dem Menschen sogar im Zustand der Belagerung ein Freiheitserlebnis ermöglichen. Auch der Leib kann von innen her als Instrument ganz neu ergriffen werden, und vielleicht entsteht erst dadurch ein wirklich neues Weltverhältnis – durch Sinnesorgane, die nicht nur abbilden, sondern ihre eigene schöpferische Fähigkeit entfalten können. All dies trägt zur sich durch die schmerzende Hand hindurch in die Schrift ergießenden Sprache bei, die nicht nur der Reflexion dient, sondern selbst zu einem sinnlich-übersinnlichen Tastorgan wird, eben zu einem «Poem des Tastens» (Gaston Bachelard).

Verwandlung zur Erde

Ein solches Wahrnehmen öffnet nicht nur den Einblick in neue Räume, sondern lässt mich auch bemerken, wie sich der Blick von dort auf mich zurückwendet, wodurch erst wirkliche Selbsterkenntnis möglich wird: «Der Phönix ist in uns eingeschriebene Natur. Seine mythische Röte kann singen und in Todesnähe leuchten, auferstehen, am Abgrund wissend werden in einem Durst nach Erneuerung, der mir zeigt, dass ich überhaupt nicht weiß, wer ich bin, bis ich vom Abgrund angeschaut werde.» Das spricht die Autorin nicht nur aus, sondern schildert schließlich auch ein umstürzendes Abgrunderlebnis, das nicht nur sie selbst, sondern auch ein Stück Welt verwandelt – «es war, als hätte ich jetzt endlich die richtige Verbindung zur Erde aufgenommen, oder richtiger, als hätte die Erde mich als ihresgleichen erkannt».

Wird der Mensch so «Leser seiner selbst, ist die Gefahr, dass äußere Restriktionen auch sein Inneres ergreifen, geringer. Es gibt einen Geist der Sinne, der die Zeit überdauert.» Um diesen «neu zu spüren und ihn sichtbar zu machen, ist es unvermeidlich, neue Wege abzuschreiten und wahrhaft ein Erdenbürger zu werden, der im Kosmos beheimatet ist».

So lässt Marica Bodrožić ein lebendiges, von Herzenskräften durchdrungenes Gedanken-, Wort- und Schriftgewebe entstehen, eine Grenzfläche zwischen äußerem und innerem Leben, die etwas verbirgt oder offenbart – je nachdem, wie es mir gelingt, mich an diesem Vorgang zu beteiligen, auch «meine Jakobsleiter» zu entdecken und so meinen eigenen Schicksalsfaden aufzunehmen. Eine Voraussetzung dafür ist, sich immer noch mehr lassen zu können im Sinne Meister Eckharts, auf den sich die Autorin mehrfach bezieht, wie auch auf manche anderen Mystikerinnen und Mystiker. «Ich schreibe diesen Text nicht nur mit meiner Hand, sondern durch die Hand mit meiner Seele, und möchte die Fragen, die ich stelle, als geistige Erde sehen.» Die Erde ist ihr «ein Ort im Universum. Sie sieht uns von innen und von außen.» Im Erüben, Neues durch mich einzulassen, kann schließlich «das Leben sich meiner als Erde» bedienen.

Insofern handelt ‹Pantherzeit› wirklich ‹Vom Innenmaß der Dinge›, wie es der Untertitel sagt. Es ist ein Selbstzeugnis, in dem ich mich selbst lesend wiederfinden kann. Ich kann es wie eine Kette von Assoziationen lesen, die Außen- und Innenerlebnisse, Erinnerungen und Zeitkommentare miteinander verknüpft. Oder wie eine Sammlung weiser Aphorismen, eigener wie angeeigneter. Ich kann über (scheinbar) Naives ebenso staunen wie über mutige Stellungnahmen jenseits einer partikularen Zugehörigkeit, oder über die offenen Einblicke, die mir in ein anderes Leben gewährt werden. Auch bei Letzteren fühle ich mich nie als Voyeur, aber immer angeregt, mit mir selbst in ein neues Verhältnis zu kommen. Das völlig unprätentiöse Gedanken- und Sprachgewebe lässt mich als ein «offenbar Geheimnis» (Goethe) frei und so auch zu einem eigenen neuen Atem, zu meiner eigenen Zeit finden.


Buch Marica Bodrožić, Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge, Otto Müller Verlag, Salzburg 2021

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Footnotes

  1. Alle Zitate stammen aus dem Buch.

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