Bisher trugen Christentum und Freimaurerei viel zur Entstehung der amerikanischen Kultur bei und standen im Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen. In den letzten Jahrzehnten erreichen diese Ströme die Eliten des Landes scheinbar weniger. Ein Kommentar von Daniel Hindes.
Der große Widerspruch in der Geschichte der USA besteht zwischen den hochfliegenden Idealen und dem wiederholten Scheitern, ihnen gerecht zu werden. Die Verheißung und die Enttäuschung sind die beiden Fäden, die sich durch den Lauf der Ereignisse ziehen. Das Versprechen rührt immer noch das Interesse aus aller Welt, und die Enttäuschungen frustrieren die Reformer und Reformerinnen vor Ort und die Kritiker und Kritikerinnen im Ausland.
Es gibt einen geheimen Strom hinter den veredelnden Elementen des amerikanischen Projekts. Die Ideale, die sich der hässlicheren Seite der amerikanischen Natur entgegenstellen, sind erhaben und tief, und es ist kein Zufall, dass viele der Gründergeneration sowie viele der Führenden der folgenden 150 Jahre der Freimaurerei angehörten. Da die Freimaurerbewegung sich verborgen hielt, ist es schwierig, über diesen Einfluss zu sprechen. Er lässt sich am ehesten an der Harmonie zwischen den freimaurerischen Idealen, wie Gelehrte sie kennengelernt haben, und den Idealen, die in den Gründungsdokumenten der Nation verankert sind, erkennen.
Es gibt viele Fingerabdrücke des Rosenkreuzertums in der Geschichte. Ebenfalls im fortschrittlichen Sinne durch einen Großteil der amerikanischen Geschichte wirkend ist ein tiefes und herzliches Christentum, das als Quelle aller amerikanischen Sozialreformbewegungen von den 1830er- bis in die 1960er-Jahre identifiziert werden kann. Damit meine ich, dass die Gründer und Gründerinnen dieser Bewegungen – von der Bildungs- und Gefängnisreform über Bürgerrecht zu Black Lives Matter – Mitglieder von Kirchen waren und ihre Bemühungen in ihrer christlichen Identität begründeten.
Einfluss der Eliten
In den letzten 40 Jahren haben sich viele Trends in den Vereinigten Staaten verschoben, manche zum Guten, manche zum Schlechten. Dabei hat es den Anschein, dass die Kultur, insbesondere in ihren höchsten Rängen, den Kontakt zu diesen progressiven spirituellen Einflüssen verloren hat. Auf religiösem Feld hat sich das Land sowohl verbreitert als auch verengt. Unter Amerikanerinnen und Amerikanern ist die Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt heute größer denn je. Die Religionen Asiens erfreuen sich breiter Beliebtheit, und das nicht nur bei Eingewanderten aus dieser Region. In Umfragen geben über 80 Prozent der Amerikaner an, dass sie an irgendeine Form von Gottheit oder spiritueller Welt glauben. Aber ein immer größer werdender Teil erkundet diesen Glauben außerhalb jeder Art von institutionell organisierter Religion. Viele traditionelle christliche Konfessionen haben sich in ihrer Theologie verengt und verknöchert. Zwar gibt es immer noch viele Kirchen mit breiter inklusiver Botschaft, aber ebenso viele haben sich dem sozialen Konservativismus mit weißen, ethnisch-nationalistischen Elementen verschrieben. Das ‹Wohlstandsevangelium› zieht viele Menschen an, manchmal besuchen 10 000 oder mehr einem Gottesdienst. Sie lesen aus der Bibel heraus, dass Jesus wollte, dass diejenigen, die ihm nachfolgen, wohlhabend sind. Eine solche Interpretation bleibt für andere Konfessionen ein Rätsel. Dies ist aber ein überzeugendes Beispiel für die jüngste Tendenz in der amerikanischen Kultur; zu glauben, dass die Realität mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen sollte und nicht umgekehrt.
Es hat den Anschein, dass die Kultur, insbesondere in ihren höchsten Rängen, den Kontakt zu den progressiven spirituellen Einflüssen verloren hat.
Inzwischen hat die Freimaurerei, selbst in ihrer abgeschwächten Form, ihren Einfluss an die herrschende Elite verloren. Die Logen gibt es noch, und die Lehren werden intern ernst genommen. Aber es gibt keine Anzeichen mehr, dass Präsidenten, hohe Regierungsbeamte und -beamtinnen, Vertreterinnen und Vertreter in Botschaften, Wirtschaft und andere Verantwortliche mit freimaurerischen Konzepten verbunden sind. Auch scheinen sie nicht viel geistige Nahrung aus ihrer religiösen Praxis zu ziehen. Kurz: die Entscheidungsträgerinnen und -träger in den höchsten Rängen des Landes verlieren den Kontakt zum spirituellen Strom, der die amerikanischen Ideale erhebt, und zu den religiösen Praktiken, die sie früher zur Selbstverbesserung und zur Sorge um die weniger Glücklichen anspornten. Diese kulturellen Elemente existieren zwar noch, aber nicht mehr unter den Eliten. Daraus erklärt sich, warum eine Erneuerung der amerikanischen Kultur von der Basis kommen wird und warum in den letzten Jahrzehnten die amerikanische Führung immer wieder versagt hat. Wie wir sehen, kann die kulturelle Erneuerung der USA nur von den Menschen kommen.