Die Kraft eines geteilten künstlerischen Momentes, eines gemeinsamen Erlebens wird gerade jetzt, nach dem Lockdown, deutlich. Es ist eine Kraft, die Zukunft in die Gegenwart holt.
An einem der ersten warmen Sommerabende vor circa einer Woche vernahm ich plötzlich lauten italienischen Gesang mit Cellobegleitung und verdächtigte zunächst die Nachbarschaft, die Musik etwas zu laut aufgedreht zu haben. Der Gesang kam jedoch von draußen. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass sich an der nahe gelegenen Straßenkreuzung inmitten eines Wohnviertels in Basel ein Sänger und ein Cellist eingefunden hatten, um mit einem Ad-hoc-Auftritt ihre Musik zu teilen. Wie beim ‹Rattenfänger von Hameln› öffneten sich mehr und mehr Fenster in der Nachbarschaft, Türen gingen auf und mehrere Dutzende Menschen fanden sich an der Straßenkreuzung ein, um gemeinsam diesem spontanen Spektakel beizuwohnen. Inmitten dieser leichten Sommerabendstimmung, vermischt mit der Dankbarkeit über die Musik, empfand ich vor allem eine Freude über die Leichtigkeit des Zusammenseins mit Menschen verschiedensten Hintergrunds. Im gemeinsamen Erleben und Zuhören stiftet sich eine Gegenwart, deren Zauber wir alle kennen: Wir sind berührt in und aus Hingabe an das Erlebte. Ein gemeinsam betrachtetes Bild, ein zusammen gehörtes Lied oder eine erzählte Geschichte können eine Verbundenheit stiften, die uns das Geschenk unseres Menschseins bewusst macht.
Die britische Rapperin, Dichterin und Autorin oder auch der britische Rapper, Dichter, Autor Kae Tempest 1 hat sich während des ersten Lockdowns mit der Veröffentlichung seines/ihres neuen Buchs ‹Verbundensein›2 während einer Zeit der künstlerisch-kulturellen Wüste mit genau diesem Thema auseinandergesetzt. Wieso führt genau diese Zeit, in der keine künstlerischen Veranstaltungen möglich sind und die physischen Begegnungen, das unmittelbare Verbundensein mit Abstand- und Kontaktbeschränkungen eingeschränkt werden, zu einem Plädoyer der Verbundenheit? Es ist nicht nur eine Reaktion auf die massive Zunahme von digitalen Tools und Apps, die mit Verbundensein werben, sondern vielmehr der Versuch, einen Weg aufzuzeigen, wie «durch ein feineres kreatives Verbundensein Mitgefühl entwickelt und tiefere Beziehungen zur Welt» 3 aufgebaut werden können. Tempest sieht diese Suche nach einer Gemeinsamkeit, die «unterhalb unserer einzigartigen Kulturen und Identitäten»4 zu finden ist, die mächtiger ist als das, was trennt. Es ist dabei genauso die Frage nach Zusammenhalt und Gemeinsamkeit in den inneren und äußeren Spaltungen unserer Zeit wie beispielsweise Black Lives Matter oder auch der Impfdebatte.
Im gemeinsamen Erleben und Zuhören stiftet sich eine Gegenwart, deren Zauber wir alle kennen: Wir sind berührt in und aus Hingabe.
Kreativität ist dabei eine Möglichkeit, das Verbundensein zu fördern. Eine Kreativität, die keineswegs nur künstlerisch tätigen Menschen möglich ist, sondern allen – für Tempest ist «jede von Liebe getragene Handlung»5 kreativ. Kreativität als ein praktisches Tun fragt dann nach einem Tätigsein, das mit offenen, wachen, hingebenden Sinnen wahrnimmt, beschreibt und gestaltet. «Kann ich wirklich, indem ich besser oder engagierter im Lesen von Texten oder im Hören von Musik werde, auch besser im Lesen und Zuhören anderer, der Welt und mir selbst werden?»6, fragt Kae Tempest – und bejaht. Diese Wiederbelebung der Sinne, des Hörens, Sehens und Schmeckens, ist gar nicht selbstverständlich. Wenn es dann gelingt, verrät mir mein Hören, mein Schmecken genauso etwas über mich selbst wie über das Wahrgenommene. Die Selbstwahrnehmung wird zu einer Antwort auf die Welt, es entsteht Verbindung. Eine Antwortbeziehung, so der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, der zu dem Thema als Phänomen der Resonanz forscht7, setzt voraus, «dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen»8. Jede sinnliche Wahrnehmung kann uns daher fragen, ob wir noch in einer Verbundenheit mit uns selbst sind, noch mit eigener Stimme sprechen. Das Künstlerische kann dabei unterstützen, mit eigener Stimme zu sprechen und die Fremde zu vernehmen, indem es berührbar macht und vor allem, das ist vielleicht das Wichtigste, der Möglichkeit des Scheiterns nicht entgegenwirkt. Beides, Verletzlichkeit und Scheitern, braucht Mut – und ist vielleicht das einzige Tor zu einer Menschlichkeit, die ein Verbundensein ermöglicht. Kae Tempest erzählt von einer ihrer Lesungen: «Nackte Sprache hat eine vermenschlichende Wirkung; während sie mir zuhörten, wie ich meine eigene Geschichte erzählte, öffneten sich die Menschen, wurden verletzlicher und waren nicht mehr so auf der Hut.»9
Verbundensein in diesem Sinne ist kein emotionaler Zustand vollkommener Harmonie, sondern eine von tiefem Ernst und wachem Menschsein begleitete Suche nach mir und dem anderen.
Wie lauten also die Geschichten, die nun erzählt werden möchten, die Lieder, die noch geteilt werden können?
Titelbild: Kae Tempest Performance während der Verleihung des Mercury-Preises, Screenshot aus dem Youtube-Video.
Footnotes
- Kae Tempest, ehemals Kate Tempest, schreibt sich seit August 2020 eine nichtbinäre Geschlechtsidentität zu.
- Kae Tempest, Verbundensein. Berlin 2021.
- Ebd., S. 13.
- Ebd., S. 14.
- Ebd., S. 15.
- Ebd., S. 67.
- Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2017.
- Ebd., S. 298.
- Siehe Nr. 2, S. 33.