Vater der Filderklinik

Ernst Harmening (13. Oktober 1934 bis 29. Juni 2024) war lange Geschäftsführer der Filderklinik und Mitbegründer des Nikolaus-Cusanus-Hauses für pflegebedürftige und alte Menschen in Stuttgart.


Geboren wurde Ernst Harmening 1934 in Schaumburg-Lippe, heute südöstliches Niedersachsen, in dem Dorf Südhorsten bei Stadthagen. 1938 kam seine Schwester Gisela und 1939 der Bruder Gerhard zur Welt. Ein tiefes Erlebnis war für ihn, dass dieses Brüderchen am Vorabend seines siebten Geburtstags starb. Die Kindheit war geprägt von der Begegnung mit Menschen, Erlebnissen mit der Natur und den Elementen. Eine unsichtbare Welt wurde ihm so selbstverständlich. Er ging auf die Dorfschule, später aufs Gymnasium in Bückeburg. Sein Vater war im Krieg und kehrte erst spät aus amerikanischer und englischer Gefangenschaft zurück. Das überschattete die Familie und Ernsts Jugend. Er musste sich ums Haus und den großen Garten kümmern, auf die kleine Schwester aufpassen und Verantwortung übernehmen. Vom Großvater lernte er, das Wetter zu beobachten und Arbeitsdisziplin. Er wurde evangelisch konfirmiert. Fragen wie ‹Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist mein Schicksal?› beschäftigten ihn schon früh. Den immer theoretischer werdenden Unterricht lehnte er ab, zumal er praktisch veranlagt war. So machte er nach der 10. Klasse eine Drogisten-Lehre in Minden. Was er da lernen durfte über die Natur, die Pflanzenwelt, die chemischen Prozesse, sagte ihm viel mehr zu. Seine spätere Frau Helga lernte er bei einem Freund kennen. Sie war 15, er 19 Jahre alt. Vier Jahre lang trafen sie sich zweimal im Jahr zum Tanzen, bis sie sich verlobten, als Helga 19 Jahre alt war. Im Jahre 1959, als sie 21 Jahre alt war, heirateten sie. Sie bekamen drei Kinder: Almut, Astrid und Christoph. Inzwischen gibt es fünf Enkelkinder und drei Urenkel.

1964 war ein Schicksalsjahr. Ernst Harmening erfuhr durch die Besitzerinnen eines Reformhauses von der Christengemeinschaft und der Anthroposophie. Er und seine Frau wurden schnell heimisch in der Christengemeinschaft und wuchsen in die Anthroposophie hinein. In Stuttgart war zur selben Zeit die Mahle-Stiftung und dann der Verein Filderklinik (Bauverein) gegründet worden. Ernst Harmening fühlte sich an einem Nullpunkt in seinem Leben. Äußerlich fehlte nichts, aber innerlich verspürte er eine große Unruhe in ihm in Bezug auf das weitere Leben. Dann wurde er durch Ekkehard von Blücher, der bei der Weleda arbeitete, auf einer Süddeutschlandreise gefragt, ob er nicht den Norden verlassen und auch nach Süddeutschland kommen wolle? Und ob er die Geschäftsführung der geplanten Filderklinik übernehmen wolle? Obwohl eine solche Tätigkeit für ihn neues Terrain war, sagte Ernst zu und wurde 1972 der erste Geschäftsführer des Fördervereins Filderklinik (Betriebsverein). Schon ein Jahr später erfolgte die Grundsteinlegung für den Klinikbau. Später kam der Kindergarten dazu. Der Initiativkreis und die Klinikleitung arbeiteten von Anfang an mit dem Netherlands Pedagogical Institute (NPI) in Holland zusammen, dessen Begründer Bernard Lievegoed war. So konnte Ernst Harmening nun beruflich ganz aus seinem anthroposophischen Hintergrund heraus arbeiten und aus dieser Quelle bis ins praktische Leben hineinwirken. In der Abendschule holte er eine betriebswirtschaftliche Ausbildung nach.

Mit Blumenkranz, undatiert

Eine besondere Sozialfähigkeit

Er hatte die Fähigkeit, Menschen, die zu verschiedenen Gruppierungen gehörten, zusammenzuführen, sie zu verbinden und zwischen gegensätzlichen Parteien ausgleichend zu wirken. Die Frage trieb ihn um, warum er in Konflikten immer zwischen den Gruppen zu vermitteln habe, ohne zu einer dazugehören. In Gesprächen mit Michael Kientzler, Pfarrer der Christengemeinschaft, fand er Hilfe. Dieser sagte ihm, dass der Lebenssaft eines Baumes immer zwischen Holz und Borke fließt. Das ‹Dazwischen› sei entscheidend für das gesunde Leben! Dieser Gedanke half Ernst Harmening, die vielen sozialen Aufgaben anzunehmen.

Jeden Klinik-Morgen ging er zuerst zu den Aufbahrungsräumen und nahm Abschied von verstorbenen Patienten. Viele Menschen hat er so im Laufe der Jahre über die Schwelle begleitet. In seinem Büro lag immer eine aktuelle Liste aller Patientinnen und Patienten. Die Klinikleitung traf sich um 7 Uhr: der Arzt Jürgen Schürholz, die Pflegedienstleiterin Margarete Vögele und er. Eine große, wertvolle Turmalinscheibe hatte er ins Fenster gestellt und jeden Abend, wenn er ging, legte er sie wieder in ihren Holzschrein zurück. Dies war ein treu gepflegtes Ritual. Jedermann wusste durch diesen kostbaren Stein im Fenster, dass Ernst Harmening im Hause war. Sie begannen die Sitzung immer mit ‹anthroposophischer Arbeit›, bevor die Aufgaben des Tages besprochen wurden. Wenn einmal Uneinigkeit herrschte, trafen sie sich noch samstags, um sie auszuräumen und die neue Woche unbelastet beginnen zu können. Nie wurde Ernst Harmening zornig! Die Fähigkeit, mit Rat und Tat zu helfen und zu vermitteln, wurde im weiten Umkreis geschätzt, gebraucht und erfragt. So war er als Geschäftsführer der Filderklinik mit der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach (Wiesneck) verbunden, mit dem Johannes-Haus in Öschelbronn, dem Paracelsus-Krankenhaus in Unterlengenhardt, mit der Klinik in Herdecke, dem heilpädagogischen Therapeutikum Raphael-Haus und dem Tobias-Haus und vielen weiteren. Er beriet die Institutionen, trug oft zur Rettung bei, half, Probleme zu lösen. Als gewählter Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der fast 800 Institutionen vertritt, hatte er viele menschliche Verbindungen auch außerhalb anthroposophischer Kreise. Ernst Harmening war es auch, der die Gründung des Nikolaus-Cusanus-Hauses vorantrieb, nachdem sein Steuerberater Helmut Rau ihn nach einer Einrichtung für ältere Menschen gefragt hatte. Er begleitete den Bau in allen Phasen. Die Gestaltung der Kapelle trägt seine Handschrift. Die Tradition der Feier zur Verabschiedung der Verstorbenen im Haus geht auf ihn zurück. Er kam oft ins Nikolaus-Cusanus-Haus und trug durch viele Jahre die anthroposophische Arbeit der Bewohnenden mit. Er war auch Leser der Klassenstunden und hat die Mantren der einzelnen Stunden aufgeschrieben, sowohl für die Hochschularbeit in der Filderklinik als auch für die Klassenstunden im Nikolaus-Cusanus-Haus.

Das Vertrauen ins Schicksal war ihm tief verwurzelt. Aus dessen Strom kam die Fülle der Aufgaben auf ihn zu. Er ergriff sie und stellte sich in ihren Dienst. Seine Frau Helga hielt ihm stets den Rücken frei. Sie war ihm Gesprächspartnerin und Vertraute. Sie hatten ein gastfreies Haus und nahmen gelegentlich auch Menschen in schwierigen Situationen auf. Ernst Harmening hatte ein großes Herz. In der Filderklinik wurde er ‹Vater des Hauses› genannt. Das Bundesverdienstkreuz lehnte er ab. Sein Gerechtigkeitsgefühl sagte ihm, dass es dann viele Menschen bekommen müssten. Im Jahr 1998, mit 65 Jahren, verließ er als Rentner die Filderklinik, wobei viele Aufgaben weiter liefen. Die Ferienreisen führten zu spirituellen Orten, wie den Externsteinen, Chartres, Ephesus, Jerusalem und Skandinavien.

Mit 15 Jahren und mit 5 Jahren

Dankbarkeit für sein Lebenswerk

Ins Nikolaus-Cusanus-Haus zog das Ehepaar Harmening 2019 ein. Die Trennung von Haus und Garten war schwer. Die Corona-Zeit brachte zusätzliche Einschränkungen. Sie nahmen an den Veranstaltungen im Hause teil und bemühten sich, sich einzuleben. Schön war, dass sich um Ernst Harmening ein kleiner Arbeitskreis bildete, in dem Vorträge von Rudolf Steiner in dem Bewusstsein gelesen wurden, für die Zeitsituation und das Nikolaus-Cusanus-Haus etwas Gutes zu bewirken. Erst kurz vor seinem Erdenabschied wurde diese wöchentliche Arbeit für ihn zu anstrengend, und er verabschiedete sich daraus. Ein extra einberufenes letztes Treffen mit ihm und seiner Frau in dieser Runde fand drei Wochen vor seinem Tode statt. Es sollte in Dankbarkeit für sein Lebenswerk noch einmal zurückgeblickt werden. Schön eingeleitet durch Margarete Vögele wurde über die Gründung der Filderklinik, die Arbeit dort und die Entstehung des Nikolaus-Cusanus-Hauses gesprochen. Von den glücklichen Fügungen, die diese Gründungen begleitet haben, berichtete Ernst Harmening selbst. Sie werden in Erinnerung bleiben!

In seinen letzten Lebenswochen ging er bewusst auf seinen Abschied aus diesem Erdenleben zu, wusste, wann die Zeit für die letzte Ölung gekommen war und ging in der Johannizeit, in der samstäglichen Mittagsstunde des 29. Juni 2024, über die Todesschwelle in seine geistige Heimat. Seine ganze Familie war bis zuletzt um ihn und begleitete diesen Schritt.

Ein tief mit der Anthroposophie verbundener, wahrheitsliebender und gütiger Mensch ist von uns gegangen, dessen Wirken in Treue zu seinen Lebenszielen gestanden hat. Sein eigener Lebensbericht endet mit großer Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber.


Titelbild Ernst Harmening und Margarete Vögele im Nikolaus-Cuanus-Haus. Alle Fotos: Privat

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