Die Entdeckung, dass das menschliche Erbgut weitgehend aus Virenresten besteht, gilt als eine der revolutionärsten Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts. Die Revolution spielt sich bis jetzt allerdings von der Öffentlichkeit fast unbeachtet ab. Noch immer wird das Feindbild der Viren als Krankheitserreger gepflegt und im Alltag umgesetzt, bis hin zum kürzlich in Deutschland verordneten Zwang zur Masernimpfung. Ein radikales Umdenken steht an.
Forschende der Mikrobiologie erfahren durch die Befunde moderner Gensequenzierungstechniken, dass das Erbgut höherer Organismen wesentlich durch Infektion und Integration in der Wechselbeziehung mit Mikroben entstanden ist; dass zufällige Mutation und natürliche Selektion – bis heute nach klassischer Lehrmeinung als Hauptfaktoren der Evolution bezeichnet – lediglich Mitspieler im großen Orchester des Lebens sind. Warum geht kein Aufschrei durch die Presse? Weil die Protagonisten dieser Wissenschaft winzig und fast unsichtbar sind? Oder weil ihre Erforscher und Erforscherinnen nicht rechthaberisch, sondern bescheiden auftreten?
Ein Kreis von Forschenden der Mikrobiologie arbeitet seit 38 Jahren jeweils im Herbst zwei Tage im Forschungsinstitut am Goetheanum an diesen und ähnlichen Themen. Im Zentrum des Treffens am 20./21. September 2019 stand die Forschung über die Gesamtheit der Mikroben eines Organismus oder eines Ökosystems, das Mikrobiom. Diese habe, so schrieb der Mikrobiologe Meinhard Simon in der Einladung, für die Erkenntnis der Wechselbeziehungen zwischen Mikroben und ihrem Habitat ganz neue Türen aufgestoßen, unabhängig davon, ob es sich um höhere Organismen, den Boden, Seen oder das Meer handelt.
Unser Organ um uns
Dass Mikroben im Boden eine wichtige Rolle spielen, ist allgemein bekannt. Dass aber zu jedem von uns als lebenswichtiges Organ eine vielfältige Gemeinschaft von Kleinstlebewesen gehört, die direkt an unserem Stoffwechsel beteiligt sind, wird bis heute wenig gewürdigt. Bakterien und Viren leisten einen wesentlichen Beitrag zu unserem Wohlergehen und Alltag, zur Umwelt und Evolution.
Der Mediziner Thomas Hardtmuth hat die wichtigsten Ergebnisse der Mikrobiom- und Virenforschung zusammengetragen. Zur entwicklungsfördernden und pathologisierenden Doppelfunktion der Mikroben nennt er das Beispiel von Helicobacter pylori, einem Bakterium, das seit Jahrtausenden menschliche Mägen besiedelt hatte und bis Anfang des 20. Jahrhunderts bei den meisten Menschen zu finden war. Nachdem man festgestellt hatte, dass die Träger von Helicobacter ein höheres Risiko hatten, an Magengeschwüren und -krebs zu erkranken, wurde dieser ‹Ureinwohner› mit Antibiotika fast ausgerottet, sodass ihn nur noch sechs Prozent der nach 1995 geborenen Menschen in sich tragen. Die Kehrseite: Mehrere Untersuchungen belegen den Zusammenhang zwischen dem Fehlen des Bakteriums und dem Risiko von Speiseröhrenkrebs und Asthma bronchiale. Inzwischen weiß man, dass Helicobacter als Symbiont eine wichtige Rolle bei der Säureregulation im Magen spielt.
Virale Fähigkeiten
Im Laufe seines Lebens baut sich der Mensch sein individuelles Mikrobiom auf, mit unzähligen Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen, die er von der Mutter und später aus der Umwelt aufnimmt und zum Bestandteil seines eigenen Organismus macht. Es kommt bei den Mikroorganismen in unserem Körper weniger auf einzelne Pathogene, sondern auf die gesamte Artenvielfalt an. Die meisten sogenannten Krankheitserreger sind auch in unserem Organismus zu finden, wenn wir gesund, aber unauffällig und getragen sind von einem sensiblen Gleichgewicht in einem vielfältigen Mikrobiom. (1) Noch fragwürdiger wird die Angst vor Mikroben, wenn man ihre Rolle in der Evolution zur Kenntnis nimmt. Hardtmuth zitiert den ‹Virenpapst› Louis Villareal: «Wie sich in den letzten Jahren herausstellte, sind die infektiösen, hochgefährlichen Auswirkungen viraler Infektionen eine Art Sonderfall und kennzeichnen jene Viren, die keinen dauerhaft sesshaften Lebensstil in Wirtsorganismen entwickeln können. In den meisten Fällen leben Viren in einem Wirtsorganismus und helfen ihm. […] Praktisch alle Kompetenzen der natürlichen Genombearbeitung, wie sie in der Konservierung von Gen-Ablesung, Transkription, Translation und Rekombination repräsentiert sind, stammen von viralen Fähigkeiten ab […].»
Im Arbeitskreis wurden diese Befunde auch aus geisteswissenschaftlicher Perspektive diskutiert. Die Sphäre, in der wir mit Pflanzen und Tieren leben, ist dicht besiedelt von Millionen von Kleinstlebewesen, die höchst aktiv in ständiger Bewegung Kräfte entfalten. Können die an ihnen beobachteten Bildegesetzmäßigkeiten ein Licht werfen auf die bis heute unbeantwortete Frage nach den in der Gestaltbildung der Organismen wirksamen Kräften? In einem Beitrag zur Entstehung von Termitenbauten deuteten sich ähnliche Gestaltbildungen an, wie sie auch bei Bakterienkolonien zu finden sind. Weitere Beiträge behandelten das Mikrobiom von Pflanzen und seine Veränderungen bei der Heilmittelherstellung und die Entwicklung von Mikrobengesellschaften in verschiedenen Regionen der Meere.
Die Grenzen zwischen den Lebewesen sind fließend. Können unsere Vorstellungen von ätherischen Kräften mit diesem Wissen konkreter werden?
(1) Thomas Hardtmuth, Die Rolle der Viren in Evolution und Medizin. Tycho de Brahe Jahrbuch für Goetheanismus, 2019.
Kontakt: Meinhard Simon (m.simon@icbm.de) oder Forschungsinstitut am Goetheanum (science@goetheanum.ch)
Bild: 3D-Rekonstruktion des Zika-Virus von Thomas Splettstoesser (www.scistyle.com) – Eigenes Werk, CC by-sa 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48109766