Unsere Zeit ruft, die oberen Sinne zu entwickeln

Im März gab es am Goetheanum die vierte Studientagung zur Sinneslehre ‹Ich als Gemeinschaft – das offenbare Geheimnis der ‚oberen’ Sinne›. Die Veranstaltung der Sektion für Schöne Wissenschaften ist aus dem fortlaufenden Forschungskolloquium der Sektion zur Sinneslehre Rudolf Steiners hervorgegangen.


Etwa 70 Personen kamen zusammen, um über Rudolf Steiners höchst originelles Verständnis der drei oberen Sinne – Sprachsinn, Gedankensinn und Ich-Sinn – als Teil der gesamten Sinnesorganisation des Menschen zu sprechen. Im Einführungsvortrag stellte Jaap Sijmons als Leitgedanken heraus, dass die Sinne beim Menschen entwicklungsfähig sind. Namentlich die drei höchsten Sinne, die Rudolf Steiner als Kulturtat erstmals klar umrissen hat, sind von unserer weiteren Pflege abhängig. Das ist auch Teil des Schulungswegs. Ihre Entwicklung und Pflege ist von großer Bedeutung für unsere Zeit.

Renatus Ziegler betrachtete anschließend den Reigen der zwölf Sinne aus einer sehr differenzierten Perspektive und verdeutlichte dabei die unterschiedlichen Rollen, die jeweils die unteren, mittleren und oberen Sinne für unser leibliches, seelisches und geistiges Dasein in der Welt haben. Für die oberen Sinne verwendete Steiner immer wieder unterschiedliche Bezeichnungen und hob damit jeweils andere Aspekte des Phänomens hervor. Es wurde deutlich, dass sinnliche Ereignisse im Vergleich zu physikalischen Ereignissen nicht wiederholbar sind. Sie entstehen aus einer Präsenz, die Ziegler gerade im Zusammenhang mit den oberen Sinnen als einen performativen Akt der Hinwendung zu den Lauten, Gedanken und dem Ich des anderen beschreibt. So wird verständlich, warum Steiner sie auch als die sozialen Sinne beschrieb. Die Erlebnisse der oberen Sinne sind also weder technisch erzeugbar noch durch technische Medien vermittelbar.

Jutta Nöthiger und Babette Hasler sprachen und spielten im Abendprogramm humorvoll und experimentierfreudig Texte moderner und zeitgenössischer Lyrik. Auch erweiterten sie die Tagung mit künstlerischen Übungen.

KI und Mensch

Edwin Hübner sprach über die immer raffiniertere Erschaffung virtueller Realitäten, zum Beispiel durch VR-Brillen wie Apple Vision Pro, die sowohl von der Erfahrung als auch von manchen Philosophen inzwischen als authentische Realitäten betrachtet werden. Eingebettet in eine umfassende historische Betrachtung dieser Entwicklung arbeitete er die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung der Welt durch unsere zwölf Sinne und der Erfahrung virtueller Realitäten heraus. Virtuelle Welten drohen die Sinneserfahrungen immer mehr zu ersetzen, so wie die sich verbreitende künstliche Intelligenz das Denken ersetzen könnte. Ohne Sinneserfahrung also drohe ein Realitätsverlust, bei dem reale und virtuelle Welt miteinander verschmelzen. Da virtuelle Erlebnisse auf sedimentierten Sinneserfahrungen aufbauen, würde auch die Möglichkeit virtueller Erlebnisse zurückgehen, wenn basale Sinneserfahrungen nicht mehr gemacht würden. Die Flucht in eine virtuelle Realität bedeute, die Verantwortung für die Welt aufzugeben und diese ihrem Schicksal zu überlassen. Da die Technologien sich rasant weiterentwickeln, besteht die Notwendigkeit, Gegengewichte zu schaffen. Diese Gegengewichte erfordern eine Erziehung und Selbsterziehung des Menschen im umfassenden Sinne. In diesem Zusammenhang sah Edwin Hübner den anthroposophischen Schulungsweg als paradigmatisches Beispiel, wie dies geschehen könne.

Peter Lutzker beschrieb, wie die Wirkungsweise des Sprachsinnorgans im Licht der linguistisch-kinästhetischen Forschung besser verstanden werden kann. Die Entwicklung des Sprachsinns muss heute im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (zum Beispiel von ChatGPT) gesehen werden, um Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Sprache wahrnehmen und erkennen zu können. Er verwies auf den Schweizer Sprachphilosophen Max Picard, der zwischen dem ‹Wort›, das vor allem in der Poesie erfahrbar ist, und der Alltagssprache, dem ‹Wortgeräusch› unterscheidet sowie Rudolf Steiners Betonung der besonderen Wirkung dessen, was er das Sprachlich-Musikalische nannte. Dies konnten die Teilnehmenden durch den Vergleich zweier Texte, die von der Sprachgestalterin Sabine Eberleh vorgetragen wurden, unmittelbar erfahren: Der eine Text beinhaltete Auszüge aus dem Tagebuch des an Krebs sterbenden Künstlers Johannes Matthiessen. Der andere Text war eine durch den Algorithmus von ChatGPT künstlich erzeugte Version aus derselben Perspektive. Peter Lutzker verwies in diesem Zusammenhang auf die Schulung des Sprachsinns durch den Umgang mit Texten wie denen Matthiessens, die aus der Welt des Schweigens kommen und mit ihr verbunden sind.

Sinnlich-sinnhaft

Karin Michael stellte die existenzielle Bedeutung der Leibbildung und der Leibsinne in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Ohne diese sei die Entstehung der höheren Sinne gar nicht denkbar. Die Leibbildung wurde in großen kosmischen Zusammenhängen dargestellt. Anschaulich erläuterte sie den Zusammenhang zwischen Empfängnis, Embryonalentwicklung und Geburt und die sich daraus ergebende existenzielle Bedeutung der frühkindlichen Welterfahrung durch Wärme, Stillen und Umhüllen des Säuglings. Zwischen der Ausbildung der Leiblichkeit durch vielfältige Sinneserfahrungen und der Verinnerlichung von Erfahrung und damit auch des Lernens bestünden wesentliche Zusammenhänge. In einem umfassenden Sinn läge in der Leiblichkeit letztlich die einzige Möglichkeit, Wirklichkeit und Wahrheit zusammenzubringen.

Jaap Sijmons stellte zuerst dar, wie der Gedankensinn aus dem Frühwerk Rudolf Steiners sich zwanglos ergibt. Anschließend setzte er verschiedene Aussagen von Philosophen in einem Kreis aus vier gegensätzlichen Weltanschauungen zusammen und verband sie mit den Tierkreiskräften. Aus den verschiedenen Zugängen zu einem Weltverständnis resultierten auch unterschiedliche Zugänge zum Begriffssinn. So ergäbe sich zum Beispiel aus dem «stierhaft-rationalistischen» Blick Hans-Georg Gadamers, dass Verstehen immer ein lebendiger, niemals abgeschlossener Prozess sei. Insofern arbeite der Gedankensinn immer mit den bereits erworbenen Begriffen, die darauf aus seien, neue Begriffe zu bilden. Für den «löwenhaften» Sensualismus des späten Ludwig Wittgenstein könne es diesen geistigen Begriffssinn aufgrund seiner Weltwahrnehmung gar nicht geben. Da müsse erst ein neues Sinnesbewusstsein erworben werden, wie durch die Sinneslehre Rudolf Steiners. Im «skorpionhaften» Dynamismus Arthur Schopenhauers gäbe es schon das unmittelbare Sprechen von Vernunft zu Vernunft, aber nur in dem Sinne, wie wir willenshaft aus dem Anschauungsleben Abstraktionen erfassen und uns austauschen. In der «wassermannhaft-pneumatisch-religiösen» Sicht von Martin Buber würde dagegen der geistige Urgrund allen Sprechens und Verstehens erkannt. Mit Rudolf Steiner spürten wir nach, wie unser Begriffsorganismus das Organ für die Gedanken der anderen Menschen wird. Unsere Begriffe sehnten sich sogar danach und machten uns deshalb im eminentesten Sinne schon sozial.

Ichsinn zeugt das Soziale

Salvatore Lavecchia stellte Zusammenhänge zwischen der Tätigkeit des Ichsinns und dem geistigen Wesen des Ich her. Die Tätigkeit des Ich, die Wahrnehmung eines fremden Ich in sich gegenwärtig machen zu können, sah er als Urbild für alle sinnlichen Wahrnehmungen an. Daraus entwickelte er die Konsequenz, alle Sinnesorgane vom Ichsinn her verstehen zu wollen und jede Sinnestätigkeit als Annäherung an den Ichsinn zu betrachten. Ein solches Verständnis des Ichsinnes bilde die Grundlage für ein Verständnis des Ich als eines gemeinschaftlichen, sozialen Wesens. Und es ist die Grundlage für menschliche Freiheit und Liebe. Dieses Bild steht polar zu einem solipsistischen Bild des Ich als einer von anderen Menschen und der Welt in sich abgeschlossenen Entität.

Mit diesen starken und dynamischen Bildern endete eine bereichernde Tagung. Die besondere Bedeutung eines vertieften Verständnisses der von Rudolf Steiner über Jahrzehnte intensiv betriebenen Sinnesforschung, verbunden mit den brennenden Fragen angesichts des Aufkommens virtueller und digitaler Welten und deren Auswirkungen auf die Sinnesentwicklung, verlieh der gesamten Tagung eine Atmosphäre höchster Aktualität und Dringlichkeit. Zugleich entstanden wesentliche Gedanken und Impulse, wie diesen Fragen und Herausforderungen heute und in Zukunft begegnet werden kann.


Bild Veranstaltungsflyer

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