Ungelebtes Leben und Schicksal

ER sprach zu Abram:
Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehn lassen werde.1


Thomas Fuchs schreibt in einem Aufsatz über die Dimension des «ungelebten Lebens» und ihre Relevanz für Lebensbilanzierungen im Angesicht des nahenden Todes. Unter Berücksichtigung von Gesichtspunkten Viktor von Weizsäckers behandelt er die in vielen Biografien vorfindbare Diskrepanz zwischen dem ursprünglichen Lebensentwurf und der gewordenen Lebensgestalt, die sich in Zwischenbilanzen ebenso wie am Ende des Lebens zeigt. Der Mensch bleibt gemeinhin weit hinter dem zurück, was er sich in seinem Leben und mit seinem Leben vorgenommen hat – und er ahnt und weiß es mitunter. Vieles bleibt ungelebt und verharrt im Stadium der Möglichkeit, die nie Lebensrealität wird. Erwartungen, Hoffnungen und Intentionen erfüllen und verwirklichen sich nicht, und dies notwendigerweise und nicht lediglich als Ergebnis menschlichen Scheiterns, wie bereits Viktor von Weizsäcker herausarbeitete: «Wir sind zur Freiheit berufen und verurteilt, und daher immer wieder genötigt, das Wirkliche aus dem Möglichen auszuwählen, gelebtes Leben und ungelebtes Leben voneinander zu sondern. Weil der Möglichkeiten immer ungleich mehr sind, als sich verwirklichen lässt, übertrifft die Fülle des nicht Gelebten in unvorstellbarem Maße das kleine Reich des wirklich Gelebten. Unvermeidlich bleiben wir daher auch immer hinter unseren Möglichkeiten zurück und können mögliche Existenz nicht verwirklichen. Wir bleiben uns selbst etwas schuldig.»2 Viktor von Weizsäcker thematisierte die so verstandene Präsenz des Unerledigten auch für die Krankheitsätiologie. In seinem Spätwerk ‹Pathosophie› führte er die Erkrankungen des Menschen nicht in erster Linie auf das gelebte und erlebte Leben – mit seiner Vielzahl von Verletzungen und Belastungen – zurück, sondern auf das ungelebte Leben, das heißt auf die pathogen wirksamen Unterlassungen, darunter die ausgebliebenen Reifungsschritte, die mit den intendierten, aber versagten Schritten verbunden und indirekt beabsichtigt gewesen waren. Die manifes­ten Erkrankungen offenbaren in von Weizsäckers Verständnis das biografische Problem: Wir werden krank, weil wir das uns gemäße, uns bestimmte, uns meinende Leben nicht leben. Die Krankheiten, so von Weizsäcker, können jedoch in dialektischer Orientierung zugleich zu Ermöglichungswegen des Bewusstseins werden, das heißt, sie gestatten es auf ihre Weise, die versäumten Möglichkeiten anders einzuholen und Schritte der ‹Nachreifung› zu vollziehen.

Ehe es aber so weit ist oder so weit kommt, steht in erster Linie das Hadern. Fuchs macht darauf aufmerksam, dass unerledigte, nicht zu Ende gebrachte Handlungen grundsätzlich eher erinnert werden als abgeschlossene – und im Lebensrückblick unterlassene Handlungen weit mehr als tatsächlich unternommene dem Bedauern unterliegen. Der Mensch neigt in der Rückschau dazu, sich seine Fehler als handelndes Wesen eher als seine Unterlassungen zu verzeihen. Nicht nur Franz Kafka brachte seine Todesangst mit dem Gefühl in Zusammenhang, noch gar nicht ‹richtig› gelebt, das heißt das ureigene Leben noch gar nicht begonnen und geführt zu haben. Das damit zum Vorschein kommende Problem behandelt Fuchs im Anschluss an Robert Spaemann unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass angesichts einer Vielzahl vorhandener Lebensmöglichkeiten das je gelebte Dasein eine Auswahl und Beschränkung bedeutet und damit zugleich einen nicht unerheblichen Freiheitsverlust. Die verbindliche Entscheidung für eine Möglichkeit ist mit dem Verlust aller alternativen Optionen verbunden, ein unvermeidliches Dilemma, aus dem – so bereits Karl Jaspers – die Flucht in eine unverbindliche Lebensteilnahme gesucht werden kann, die die letzten Festlegungen scheut und meidet: «Ein Ausweg wird gesucht: Im Verwirklichen sollen keine Möglichkeiten verloren gehen. Daher geschieht die Verwirklichung mit dem inneren Vorbehalt, nichts endgültig zu ergreifen, vielmehr in der Realisierung die Realität gleichsam zu verleugnen. Es soll nur ein Versuch sein, den man rückgängig machen kann. […] Die unverbindliche Teilnahme ohne eigentliche Verwirklichung hält das Leben in der Unentschiedenheit fest.»3 Es ist am Ende gar kein eigentliches, wahrhaftes Leben mehr.

Gedankengänge wie diese berühren nicht nur eine grundlegende anthropologische Problematik des zur Freiheit ‹verurteilten› Menschenwesens, sondern verweisen auf eine Schwierigkeit, die immer mehr an Bedeutung gewinnt, zumindest innerhalb der wohlhabenden Industrieländer oder ihrer vermögenden Klassen. Für sie scheint es, von den Urlaubsorten bis zur medizinischen Behandlung oder Partnerwahl, eine Fülle von Optionen zu geben – ihr Dasein präsentiert sich, so Ortega y Gasset, «als eine Art Schaufenster gleichwertiger Möglichkeiten», als «Auslage» des «ziemlich Gleichgültigen».4 Wofür soll und kann der Einzelne sich entscheiden, ohne zugleich anderes zu versäumen? Das ungelebte, unentschiedene Leben nimmt, so gesehen, immer weiter zu; es lauert im Hintergrund der Biografien, die zu einem Wettlauf mit der Zeit werden und – inmitten ‹zeitsparender› Techniken – untergründig von Angst und Panik durchsetzt sind, etwas Wichtiges (oder gar das Eigentliche) zu versäumen. Fuchs erinnert in diesem Zusammenhang auch an Heidegger, der den Tod als die «Unmöglichkeit weiterer Möglichkeit» beschreibt und sich dem Phänomen der Todesangst von dieser Perspektive aus nähert. Wie der Umgang mit schwer kranken und sterbenden Menschen zeigt, steigert sich die Angst vor dem Tod tatsächlich in dem Maße, als zentrale Lebensmöglichkeiten als versäumt oder verfehlt erlebt werden.

«Leben», so schreibt José Ortega y Gasset in seinem berühmten Essay zu Goethes 100. Todesjahr, bedeutet die unerbittliche Notwendigkeit, «den Daseinsentwurf, den ein jedes Individuum darstellt, zu verwirklichen». Das wahrhafte Ich besteht geradezu aus diesem Entwurf – es hat keinen ideellen Plan, sondern ‹ist› dieser Entwurf, ist mit ihm identisch, hat in ihm sein Sein und Schicksal, auch wenn es ihn nur undeutlich kennt. Unser Ich ist unsere Berufung und unsere Bestimmung, so Ortega y Gasset – und die Dramatik der Biografie liegt nicht nur im Ringen mit äußeren Umständen, sondern vielmehr mit dem Daseinsentwurf selbst. Das menschliche Leben ist sein eigenes Problem; seine Substanz ist «Aufgabe», «etwas, das sich selber machen muss» und sich und seiner Bestimmung oder «vitalen Berufung» untreu werden kann. Der «Imperativ» ist Teil der eigenen Wirklichkeit des Menschen, des «Muss-Seins der persönlichen Bestimmung, die ihren Sitz im tiefsten und ursprünglichsten Kern unseres Wesens hat».5


Veranstaltung zum Thema
Johanni-Tagung: Vom Schicksalsverständnis in der Anthroposophie und den Karma-Vorträgen Rudolf Steiners. 23. bis 25. Juni am Goetheanum. Livestream und englische Übersetzung.

Bild Adrien Jutard

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Footnotes

  1. Gen. 12, 1 (Übersetzung Buber/Rosenzweig).
  2. In Thomas Fuchs, Leib und Lebenswelt. Kusterdingen 2008, S. 222.
  3. Ebd., S. 227.
  4. José Ortega y Gasset, Um einen Goethe von innen bittend. Bonn 1982, S. 14.
  5. Ebd., S. 26.
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